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Dekorationsartikel gehören nicht zum Leistungsumfang.
Arbeit an der Zukunft
Essays, Sammlung Luchterhand
Taschenbuch von Carl Amery
Sprache: Deutsch

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Kategorien:
Beschreibung
Vorstellung
in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

September 1992
Ich gehöre dem Jahrgang 1922 an; dem Jahrgang also, dessen Aufstiegschancen nach 1945 glänzend waren, weil der Krieg soviel gleichaltrige Konkurrenz liquidiert hatte. (So hat man mir das jedenfalls einmal soziologisch erklärt ...)
Ich wurde in München geboren und wuchs in Freising und Passau auf. Beide Elternteile waren promovierte Altphilologen, mein Vater wurde Hochschulprofessor für Geschichte. Er und meine Mutter gehörten der süddeutsch-katholischen Bildungsschicht an, die mir meine ersten kulturellen Eindrücke und meine unverrückbare, höchstens nach links ausbaubare Feindschaft zum Nationalsozialismus vermittelte.
Ich studierte von 1940 auf 41 und dann wieder ab 1946 bis 1950. Meine Fächer waren Romanistik und Anglistik, später ergänzt durch Amerikanistik (Folge eines Zwangsaufenthalts in den USA 1943/46). Am meisten verdanke ich den Lehrern Hans Rheinfelder und Wolfgang Clemen in München und Helmut Hatzfeld in Washington, D.C.
Zu schreiben begann ich in der Pubertät, ich produzierte damals die üblichen Normal-Ergüsse dieses Alters, zusätzlich verwässert durch die provinzielle Ästhetik der Hitlerzeit. Mein Elternhaus vermittelte mir allerdings wichtige Perspektiven, vor allem ein originäres Verhältnis zur Geschichte. Ich habe etwa in den Perspektiven von Braudel, Ladurie u.a. Dinge vorgefunden, die ich ansatzweise von der Arbeit meines Vaters kannte – so etwas wie eine rudimentäre histoire des mentalités.
Meine erste »ordentliche« Story schrieb ich im Winter 1945/46 in Arkansas, wo ich als kriegsgefangener Baumwollpflücker, später Dolmetscher tätig war. Sie wurde in einem der interessanten jugendlichen Blätter jener Zeit veröffentlicht, machte einen Lektor der Nymphenburger Verlagshandlung auf mich aufmerksam und führte so zum ersten Romanvertrag. (Die Veröffentlichung erfolgte 1953 und war mittelbar für meinen Zugang zur Gruppe 47 verantwortlich.) Seit 1950 verheiratet, mußte ich mich allerdings auf die Lebensweise eines freien, d.h. zu ständiger Produktion gezwungenen Schriftstellers einrichten, was hauptsächlich durch Mitarbeit beim Rundfunk gelang.
Meinen Prosastil hätte ich nicht ohne die langjährige Bekanntschaft mit angelsächsischer und französischer Literatur entwickeln können – und (damit im Zusammenhang) nicht ohne die mit den Jahren wachsende Überzeugung, daß der komische Weltzugang leichter und eher die Tragödie enthält und aus sich entläßt als umgekehrt. Wie erwähnt, habe ich dabei immer angenommen, daß ich von westlichen Vorbildern und Kategorien ausging und ausgehe; doch hat mich vor einem Jahr, bei einer Lesung in Prag, die Frage eines Tschechen nachdenklich gemacht, ob ich nicht eine starke Affinität zum tschechisch-mährischen literarischen Humor verspüre. Da könnte, wie man sagt, was dran sein – zumindest in den letzten Jahren.
Größere Resonanz als meine Belletristik lösten meine Aufsätze und Monographien zu zentralen kulturellen und gesellschaftlichen Fragen aus – so 1963 meine kurze Analyse des (west)deutschen Milieukatholizismus und, etwa ab 1970, meine Aufsätze und Monographien zur heraufsteigenden und jetzt allgegenwärtigen ökologischen Krise, die ich als Kulturkrise begreife. Da sie die bisher ernsteste Krise der Menschheit ist, und da sie die bisherigen Stereotypen von Rechts und Links, Konservativ / Reaktionär und Progressiv/ Revolutionär, gründlich außer Kraft setzt, waren die letzten Jahrzehnte für mich einerseits ein ständiges Starren ins Antlitz der Medusa, andererseits aber ein faszinierendes Wander-Abenteuer in wahrhaft neuem Gelände mit vielen neuen Freunden aus anderen Lebensgebieten – insbesondere Renegaten aus dem Bereich der Natur- und Lebenswissenschaften: Sprache und Dichtung, so will mir scheinen, haben bereits jetzt mehr Impulse diesen möglichen (und vielleicht demnächst wirklichen) Brückenschlägen zu verdanken als dem traditionellen exklusiven Verhältnis zu den sogenannten Geisteswissenschaften, die in eben diesen Jahrzehnten den neuen Paradigmen merkwürdig verschlossen blieben. (Leider läßt sich der übliche Kulturbetrieb, wenn man einen oder mehrere Blicke in die gängigen Feuilletons, Zeitschriften und Bildschirm-Programme wirft, auf dergleichen noch lange nicht oder doch nur flüchtig ein.) Das Material-Buch zu diesem Abenteuer finden Sie unter dem Titel BILEAMS ESEL beim List-Verlag (1991). Es enthält Reden, Stellungnahmen und Aufsätze aus den letzten fünfzehn bis siebzehn Jahren.
Im übrigen danke ich der Akademie für die Zuwahl und insbesondere meinen Paten, die sie ermöglicht haben.

Von Leben, Tod und Würde

Humanismus heute (?)
Ein Festvortrag für das Leopoldinum Passau
19. März 1987

Beginnen wir, wie sich das immer gut macht, unsere Betrachtung über »Humanismus heute« (hinter welchen Titel wir gewissenhaft ein Fragezeichen setzen) mit einer vergnüglichen Tatsache.
Das Wilhelmsgymnasium zu München (eine bekannte Anstalt, die nicht nur mein Vater und zwei meiner Söhne, durchlaufen haben, sondern auch Heinrich Himmler) ist in einem Bau aus der Zeit Max des Zweiten untergebracht, einem sehr schicklichen. An der schmalen Südseite trägt er zwei Nischen, in denen ein griechischer Dichter und ein römischer Feldherr untergebracht sind. Der Feldherr, Julius Caesar, ist durch eine Tafel identifiziert, auf der in Quadrata-Schrift zu lesen steht:
HAEC STUDIA ADOLESCENTIAM ALUNT.
Mit den Studien, welche die Jugend kräftigend nähren, sind zweifellos die humanistischen gemeint, und die einladende Geste Caesars bezieht sich offensichtlich auf die hoffende Jugend, die durch die Tore der Schule einziehen soll.
Nun, Jahrzehnte nach meiner Gymnasialzeit stieß ich zufällig auf den Textzusammenhang dieses Zitats. Es stammt aus DE BELLO GALLICO, und zwar aus einem Exkurs, in dem Caesar die gesellschaftlichen Verhältnisse der keltischen Gallier beschreibt. Die jungen Edelinge, so schreibt er, schlagen sich die Tage mit Sport, mit Jagd, mit wilden Ritten und handfesten Gelagen um die Ohren, und mit knochentrockenem Humor kommentiert er abschließend: HAEC STUDIA ADOLESCENTIA ALUNT – mit einem solchen Programm wird die gallische Jugend großgezogen ...
Typisch fürs 19. Jahrhundert, könnte man sagen – aus dem Bau der Antike werden ein paar Legosteine herausgelöst, aus denen man sozusagen einen autothematischen Humanismusbetrieb zusammensetzt, ein Florilegium von Schulweisheiten; alte Humanisten haben das wohl noch im Ohr: o me dareis anthropos u paideuetai – non scholae sed vitae discimus – multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit – nulla dies sine linea – und schließlich, in unheilvoll-gradliniger Verlängerung: o xein, anggelein – sowie dulce et decorum est pro patria mori ... Und der Brockhaus von 1884 (man schrieb damals »Conversations-Lexikon« noch mit C) schreibt denn auch kritisch-offen: »Wenn hier ursprünglich die Einführung der Jugend in die Litteratur und in den Geist der alten Völker der leitende Gesichtspunkt war, so ist nicht zu verkennen, daß in der Folge vielfach das Mittel dazu, der Sprachunterricht, zum alleinigen Zweck wurde und an die Stelle der frischen Lebendigkeit ein geistloser Formalismus trat ...«
So weit, so gut – oder so schlecht. Jeder oder fast jeder, der ein humanistisches Gymnasium besucht hat, weiß, daß dies oft so gewesen ist; aber auch jeder oder fast jeder, der es besucht hat, wie etwa der Leopoldinum-Abiturient des Jahrgangs 1940, weiß, daß es oft und oft auch ganz anders gewesen ist. Weniger der Plan von oben, aus den Tiefen der Bildungsgeschichte oder vom Münchener Salvatorplatz, wo das Kultusministerium seit eh und je wirkt, als vielmehr das Charisma und das Verantwortungsgefühl des Lehrers – sowie der kaum konkret greifbare »Geist der Klasse« entschieden darüber, welche Erfahrung überwog. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das heute anders sein sollte. Aber wenn wir die Frage »Humanismus heute?« nicht aufgrund mehr oder weniger gemischter Erfahrungen, sondern prinzipiell stellen, müssen wir etwas weiter ausholen, müssen hinter den »Zögling Törless« und die »Feuerzangenbowle«, hinter Musil und Torberg und Heinrich Spoerl zurück, nach guter Humanisten-Tradition AD FONTES, zum Ursprung der humanistischen Geistesbewegung zurück, um überhaupt einen Stand-Punkt zu finden, von dem aus wir die Frage wenn nicht aushebeln, (dommy pa sto, schon wieder so ein Zitat!), so doch ein Stück bewegen können – aus der Gegenwart, vielleicht, in eine verhangene Zukunft hinein.
Denn eines ist klar: als Gesamt-Phänomen ist die Antike nicht zu bewältigen, ist sie kein gangbares Programm. Sie ist ein Kosmos, der sicher vielfältiger ist als unsere Gegenwart – eine Gegenwart, in der nicht nur jeden Tag eine Tier- und Pflanzenart, sondern auch eine Sprache und eine ethnische Kultur ausstirbt. Bilden, Bildung haben heißt schließlich Vor-Bilder haben, und Vor-Bilder zu suchen heißt im voraus zu urteilen, Vor-Urteile in einem ganz nüchternen, nicht abwertenden Wortsinn zu entwickeln. An welche Antike sollen wir uns denn halten? An die Lakedaimonier mit ihrer pädagogischen Päderastie, ihrer Geheimpolizei, ihren Kindsaussetzungen? An das freche, unendlich gescheite, unendlich mißtrauische, unendlich ausbeuterische Athen? An die Römer mit ihrer Steinzeit-Religiosität und ihrer unglaublichen Begabung für Propaganda? Keine moderne Literatur reicht auch nur entfernt an eine Seite attischer Prosa heran – aber was hat Thukydides geschildert, was hat Demosthenes bewirkt? Es gibt kein goldeneres Latein als das Ciceros – aber was für eine traurige – und oft genug verdächtige Figur macht er nicht in den Tagen der späten Republik, in einer Epoche der unglaublichsten Schändlichkeiten! Wo finden wir, allein, den echten Homer: in der steinernen Schicksals-Traurigkeit der Ilias oder dem prachtvollen Seefahrer- und Kriminal-Roman der Odyssee? Nein, ein Ordnungs-Gitter, ein Auswahl-Schema ist notwendig, um ein...
Vorstellung
in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

September 1992
Ich gehöre dem Jahrgang 1922 an; dem Jahrgang also, dessen Aufstiegschancen nach 1945 glänzend waren, weil der Krieg soviel gleichaltrige Konkurrenz liquidiert hatte. (So hat man mir das jedenfalls einmal soziologisch erklärt ...)
Ich wurde in München geboren und wuchs in Freising und Passau auf. Beide Elternteile waren promovierte Altphilologen, mein Vater wurde Hochschulprofessor für Geschichte. Er und meine Mutter gehörten der süddeutsch-katholischen Bildungsschicht an, die mir meine ersten kulturellen Eindrücke und meine unverrückbare, höchstens nach links ausbaubare Feindschaft zum Nationalsozialismus vermittelte.
Ich studierte von 1940 auf 41 und dann wieder ab 1946 bis 1950. Meine Fächer waren Romanistik und Anglistik, später ergänzt durch Amerikanistik (Folge eines Zwangsaufenthalts in den USA 1943/46). Am meisten verdanke ich den Lehrern Hans Rheinfelder und Wolfgang Clemen in München und Helmut Hatzfeld in Washington, D.C.
Zu schreiben begann ich in der Pubertät, ich produzierte damals die üblichen Normal-Ergüsse dieses Alters, zusätzlich verwässert durch die provinzielle Ästhetik der Hitlerzeit. Mein Elternhaus vermittelte mir allerdings wichtige Perspektiven, vor allem ein originäres Verhältnis zur Geschichte. Ich habe etwa in den Perspektiven von Braudel, Ladurie u.a. Dinge vorgefunden, die ich ansatzweise von der Arbeit meines Vaters kannte – so etwas wie eine rudimentäre histoire des mentalités.
Meine erste »ordentliche« Story schrieb ich im Winter 1945/46 in Arkansas, wo ich als kriegsgefangener Baumwollpflücker, später Dolmetscher tätig war. Sie wurde in einem der interessanten jugendlichen Blätter jener Zeit veröffentlicht, machte einen Lektor der Nymphenburger Verlagshandlung auf mich aufmerksam und führte so zum ersten Romanvertrag. (Die Veröffentlichung erfolgte 1953 und war mittelbar für meinen Zugang zur Gruppe 47 verantwortlich.) Seit 1950 verheiratet, mußte ich mich allerdings auf die Lebensweise eines freien, d.h. zu ständiger Produktion gezwungenen Schriftstellers einrichten, was hauptsächlich durch Mitarbeit beim Rundfunk gelang.
Meinen Prosastil hätte ich nicht ohne die langjährige Bekanntschaft mit angelsächsischer und französischer Literatur entwickeln können – und (damit im Zusammenhang) nicht ohne die mit den Jahren wachsende Überzeugung, daß der komische Weltzugang leichter und eher die Tragödie enthält und aus sich entläßt als umgekehrt. Wie erwähnt, habe ich dabei immer angenommen, daß ich von westlichen Vorbildern und Kategorien ausging und ausgehe; doch hat mich vor einem Jahr, bei einer Lesung in Prag, die Frage eines Tschechen nachdenklich gemacht, ob ich nicht eine starke Affinität zum tschechisch-mährischen literarischen Humor verspüre. Da könnte, wie man sagt, was dran sein – zumindest in den letzten Jahren.
Größere Resonanz als meine Belletristik lösten meine Aufsätze und Monographien zu zentralen kulturellen und gesellschaftlichen Fragen aus – so 1963 meine kurze Analyse des (west)deutschen Milieukatholizismus und, etwa ab 1970, meine Aufsätze und Monographien zur heraufsteigenden und jetzt allgegenwärtigen ökologischen Krise, die ich als Kulturkrise begreife. Da sie die bisher ernsteste Krise der Menschheit ist, und da sie die bisherigen Stereotypen von Rechts und Links, Konservativ / Reaktionär und Progressiv/ Revolutionär, gründlich außer Kraft setzt, waren die letzten Jahrzehnte für mich einerseits ein ständiges Starren ins Antlitz der Medusa, andererseits aber ein faszinierendes Wander-Abenteuer in wahrhaft neuem Gelände mit vielen neuen Freunden aus anderen Lebensgebieten – insbesondere Renegaten aus dem Bereich der Natur- und Lebenswissenschaften: Sprache und Dichtung, so will mir scheinen, haben bereits jetzt mehr Impulse diesen möglichen (und vielleicht demnächst wirklichen) Brückenschlägen zu verdanken als dem traditionellen exklusiven Verhältnis zu den sogenannten Geisteswissenschaften, die in eben diesen Jahrzehnten den neuen Paradigmen merkwürdig verschlossen blieben. (Leider läßt sich der übliche Kulturbetrieb, wenn man einen oder mehrere Blicke in die gängigen Feuilletons, Zeitschriften und Bildschirm-Programme wirft, auf dergleichen noch lange nicht oder doch nur flüchtig ein.) Das Material-Buch zu diesem Abenteuer finden Sie unter dem Titel BILEAMS ESEL beim List-Verlag (1991). Es enthält Reden, Stellungnahmen und Aufsätze aus den letzten fünfzehn bis siebzehn Jahren.
Im übrigen danke ich der Akademie für die Zuwahl und insbesondere meinen Paten, die sie ermöglicht haben.

Von Leben, Tod und Würde

Humanismus heute (?)
Ein Festvortrag für das Leopoldinum Passau
19. März 1987

Beginnen wir, wie sich das immer gut macht, unsere Betrachtung über »Humanismus heute« (hinter welchen Titel wir gewissenhaft ein Fragezeichen setzen) mit einer vergnüglichen Tatsache.
Das Wilhelmsgymnasium zu München (eine bekannte Anstalt, die nicht nur mein Vater und zwei meiner Söhne, durchlaufen haben, sondern auch Heinrich Himmler) ist in einem Bau aus der Zeit Max des Zweiten untergebracht, einem sehr schicklichen. An der schmalen Südseite trägt er zwei Nischen, in denen ein griechischer Dichter und ein römischer Feldherr untergebracht sind. Der Feldherr, Julius Caesar, ist durch eine Tafel identifiziert, auf der in Quadrata-Schrift zu lesen steht:
HAEC STUDIA ADOLESCENTIAM ALUNT.
Mit den Studien, welche die Jugend kräftigend nähren, sind zweifellos die humanistischen gemeint, und die einladende Geste Caesars bezieht sich offensichtlich auf die hoffende Jugend, die durch die Tore der Schule einziehen soll.
Nun, Jahrzehnte nach meiner Gymnasialzeit stieß ich zufällig auf den Textzusammenhang dieses Zitats. Es stammt aus DE BELLO GALLICO, und zwar aus einem Exkurs, in dem Caesar die gesellschaftlichen Verhältnisse der keltischen Gallier beschreibt. Die jungen Edelinge, so schreibt er, schlagen sich die Tage mit Sport, mit Jagd, mit wilden Ritten und handfesten Gelagen um die Ohren, und mit knochentrockenem Humor kommentiert er abschließend: HAEC STUDIA ADOLESCENTIA ALUNT – mit einem solchen Programm wird die gallische Jugend großgezogen ...
Typisch fürs 19. Jahrhundert, könnte man sagen – aus dem Bau der Antike werden ein paar Legosteine herausgelöst, aus denen man sozusagen einen autothematischen Humanismusbetrieb zusammensetzt, ein Florilegium von Schulweisheiten; alte Humanisten haben das wohl noch im Ohr: o me dareis anthropos u paideuetai – non scholae sed vitae discimus – multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit – nulla dies sine linea – und schließlich, in unheilvoll-gradliniger Verlängerung: o xein, anggelein – sowie dulce et decorum est pro patria mori ... Und der Brockhaus von 1884 (man schrieb damals »Conversations-Lexikon« noch mit C) schreibt denn auch kritisch-offen: »Wenn hier ursprünglich die Einführung der Jugend in die Litteratur und in den Geist der alten Völker der leitende Gesichtspunkt war, so ist nicht zu verkennen, daß in der Folge vielfach das Mittel dazu, der Sprachunterricht, zum alleinigen Zweck wurde und an die Stelle der frischen Lebendigkeit ein geistloser Formalismus trat ...«
So weit, so gut – oder so schlecht. Jeder oder fast jeder, der ein humanistisches Gymnasium besucht hat, weiß, daß dies oft so gewesen ist; aber auch jeder oder fast jeder, der es besucht hat, wie etwa der Leopoldinum-Abiturient des Jahrgangs 1940, weiß, daß es oft und oft auch ganz anders gewesen ist. Weniger der Plan von oben, aus den Tiefen der Bildungsgeschichte oder vom Münchener Salvatorplatz, wo das Kultusministerium seit eh und je wirkt, als vielmehr das Charisma und das Verantwortungsgefühl des Lehrers – sowie der kaum konkret greifbare »Geist der Klasse« entschieden darüber, welche Erfahrung überwog. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das heute anders sein sollte. Aber wenn wir die Frage »Humanismus heute?« nicht aufgrund mehr oder weniger gemischter Erfahrungen, sondern prinzipiell stellen, müssen wir etwas weiter ausholen, müssen hinter den »Zögling Törless« und die »Feuerzangenbowle«, hinter Musil und Torberg und Heinrich Spoerl zurück, nach guter Humanisten-Tradition AD FONTES, zum Ursprung der humanistischen Geistesbewegung zurück, um überhaupt einen Stand-Punkt zu finden, von dem aus wir die Frage wenn nicht aushebeln, (dommy pa sto, schon wieder so ein Zitat!), so doch ein Stück bewegen können – aus der Gegenwart, vielleicht, in eine verhangene Zukunft hinein.
Denn eines ist klar: als Gesamt-Phänomen ist die Antike nicht zu bewältigen, ist sie kein gangbares Programm. Sie ist ein Kosmos, der sicher vielfältiger ist als unsere Gegenwart – eine Gegenwart, in der nicht nur jeden Tag eine Tier- und Pflanzenart, sondern auch eine Sprache und eine ethnische Kultur ausstirbt. Bilden, Bildung haben heißt schließlich Vor-Bilder haben, und Vor-Bilder zu suchen heißt im voraus zu urteilen, Vor-Urteile in einem ganz nüchternen, nicht abwertenden Wortsinn zu entwickeln. An welche Antike sollen wir uns denn halten? An die Lakedaimonier mit ihrer pädagogischen Päderastie, ihrer Geheimpolizei, ihren Kindsaussetzungen? An das freche, unendlich gescheite, unendlich mißtrauische, unendlich ausbeuterische Athen? An die Römer mit ihrer Steinzeit-Religiosität und ihrer unglaublichen Begabung für Propaganda? Keine moderne Literatur reicht auch nur entfernt an eine Seite attischer Prosa heran – aber was hat Thukydides geschildert, was hat Demosthenes bewirkt? Es gibt kein goldeneres Latein als das Ciceros – aber was für eine traurige – und oft genug verdächtige Figur macht er nicht in den Tagen der späten Republik, in einer Epoche der unglaublichsten Schändlichkeiten! Wo finden wir, allein, den echten Homer: in der steinernen Schicksals-Traurigkeit der Ilias oder dem prachtvollen Seefahrer- und Kriminal-Roman der Odyssee? Nein, ein Ordnungs-Gitter, ein Auswahl-Schema ist notwendig, um ein...
Details
Erscheinungsjahr: 2007
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 368 S.
ISBN-13: 9783630621234
ISBN-10: 3630621236
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Amery, Carl
Redaktion: Kiermeier-Debre, Joseph
luchterhand literaturverlag: Luchterhand Literaturverlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 186 x 120 x 28 mm
Von/Mit: Carl Amery
Erscheinungsdatum: 02.04.2007
Gewicht: 0,347 kg
Artikel-ID: 102115112
Details
Erscheinungsjahr: 2007
Medium: Taschenbuch
Inhalt: 368 S.
ISBN-13: 9783630621234
ISBN-10: 3630621236
Sprache: Deutsch
Einband: Kartoniert / Broschiert
Autor: Amery, Carl
Redaktion: Kiermeier-Debre, Joseph
luchterhand literaturverlag: Luchterhand Literaturverlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 186 x 120 x 28 mm
Von/Mit: Carl Amery
Erscheinungsdatum: 02.04.2007
Gewicht: 0,347 kg
Artikel-ID: 102115112
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