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Beschreibung
Als ich endlich die Gelegenheit bekam, den Maler Peter Wihl zu interviewen, an jenem Abend, an dem er fünfzig Jahre alt geworden war und seine neue Ausstellung eröffnet hatte, sollte es sich herausstellen, dass wir dieses Interview aufgrund des schrecklichen Unfalls, der sich unmittelbar danach ereignete, nicht drucken konnten. Wir saßen im Restaurant, direkt gegenüber der Galerie, aus der ich immer noch Leute kommen und gehen hören konnte. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, Peter Wihl so in Beschlag zu nehmen, den Jubilar des Abends, aber er selbst war derjenige gewesen, der vorschlug, dass wir hierhergehen und reden sollten. Er wirkte zugleich nervös und erwartungsvoll, was nicht weiter verwunderlich war, seine Ausstellung war ja gerade eben eröffnet worden, und auch sonst gab es genug, worüber er nachdenken musste, er drehte sich immer wieder zum Fenster um, das bemerkte ich, während er sprach. Er bestellte sogar Champagner für mich. Und ich hatte das Gefühl, dass ein Großteil dessen, was er von sich gab, aus Zitaten bestand, etwas, das er gelesen oder gehört hatte, sich von anderen geborgt, ich kann es nicht genauer erklären, insbesondere, als er das über Satan sagte, dass Satan derjenige gewesen sei, der die Farben von den Gegenständen befreit hätte. Und gleichzeitig war es so, als wollte er eigentlich etwas anderes sagen, mehr, er hatte so viel auf dem Herzen, vielleicht war er deshalb auch so ungeduldig, er hatte mir bereits früher gesagt, er wolle mir alles erzählen, ohne dass ich wusste, was das zu bedeuten hatte.
Das Aufnahmegerät lag zwischen uns auf dem Tisch. Ich überprüfte, ob es auch funktionierte. Es funktionierte. Peter Wihls Stimme war überall. Er sprach weiter. Ich kann nicht behaupten, dass ich jedes Wort verstand, aber ich würde ja Zeit haben, es mir genauer anzuhören, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Nach einer Weile unterbrach ich ihn, vielleicht war es der Champagner, der mir den Mut dazu gab, und kam direkt zur Sache.
»Hatten Sie jemals Angst, nicht fertig zu werden?«, fragte ich.
Ich hörte etwas zu Boden fallen, vielleicht eine Gabel, er aß nämlich einen Kuchen.
»Fertig?«
Ich bin mir sicher, dass er wusste, was ich meinte. Trotzdem war ich gezwungen zu sagen:
»Fertig mit der Ausstellung, solange Sie noch sehen können.«
Er kam dicht an mich heran, seine Stimme klang gepresst, rechthaberisch.
»Man vollendet ein Bild nicht. Man verlässt es.«
Er verstummte, wandte sich wieder von mir ab, ich hörte es an seinem Atem, und ich hatte Angst, alles kaputtgemacht zu haben. Ich wollte etwas sagen und suchte nach den richtigen Worten, ich wollte etwas dahingehend sagen, dass ich der Meinung sei, das wäre schön und schrecklich zugleich, dass man nichts vollendet, sondern alles verlässt, doch bevor ich so weit kam, muss er jemanden durchs Fenster hindurch gesehen haben, denn er sprang plötzlich auf, und jetzt klang seine Stimme erleichtert, fast hell: »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Meine Frau und meine Tochter sind da.«
Dann ging Peter Wihl auf die Straße hinaus, um sie zu treffen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er sein Sehvermögen verloren.
Peter Wihl arbeitete im Atelier, an einem Oktobernachmittag, mit Gemälden für die Jubiläumsausstellung, zwölf große Leinwände. Er hatte seine Uniform angezogen, er war bereit für den Krieg: nackte Füße in ausgetretenen Sandalen, der lange, schmutzige Kittel, ein Schal um den Hals. Er war fertig mit der Grundierung. Jetzt fehlte nur noch die Kunst. Und er war in dieser kreativen Stimmung, die sich ab und zu einstellt, fast wie ein nüchterner Rausch. Die Hand war sicher und gehorchte. Die Gedanken waren deutlich. Er wusste, wohin er wollte. Es ging nur darum, den Weg zu finden. Er bewegte sich unangestrengt von Motiv zu Motiv, das langsam aber sicher Form annahm, anatomische Ausschnitte, Muskeln, ein Schulterblatt, eine Sehne, ein Fingerglied. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal so eine Kontrolle erlebt hatte, jetzt beherrschte er sein Werkzeug, er beherrschte seine Arbeit, genau in dem Moment, in dem die Arbeit zu Kunst erhoben werden sollte, in dem Moment, in dem das Handwerk, die Mühe, zu glänzen beginnen sollte, und das ähnelte fast dem Zustand von Glück. Das war das Glück. Doch plötzlich spürte er einen schrecklichen Schmerz in den Augen, als würde etwas in ihnen zerbrechen und Risse bekommen, es war, als würden sich die Augen mit Staub füllen. Die Farben glitten übereinander, die Linien lösten sich auf, die Perspektive verschwand, ihm wurde regelrecht schwarz vor Augen, und er sank zu Boden. Es dauerte nicht lange. Es war schon gleich vorbei. Nur das Echo der Schmerzen konnte er hören, seinen eigenen, schweren Herzschlag. Peter Wihl kniete sich hin und stützte lange Zeit die Stirn in die Hände. Er kam wieder zu sich. Alles fiel an seinen Platz, ebenso schnell, wie es kaputtgegangen war. Er stand auf, langsam, und als er sich den hohen Fenstern zuwandte, konnte er Helene und Kaia hinten im Garten sehen, eingerahmt von den Fenstersprossen, im schwindenden Oktoberlicht, und all das, was er sah, erfüllte ihn mit einer Freude, oder einer Erleichterung, so tief, so umfassend, dass er fast zu weinen begann, weil er kurz zuvor in der Dunkelheit gewesen war. Helene saß auf der weißen Bank unter dem Apfelbaum und blätterte in einem Manuskript, ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar, die violetten Handschuhe ohne Finger, der ockerfarbene Mantel, nie zuvor hatte er sie deutlicher vor sich gesehen, während Kaia Laub harkte, mit einem Rechen, der viel zu groß für sie war. Und Peter Wihl dachte, dass er nie diese beiden Menschen gemalt hatte, weder seine Ehefrau noch seine Tochter.
Vielleicht war das der Grund: Sie standen ihm zu nah, er traute sich nicht.
Er zog seine Windjacke an und ging zu ihnen hinaus.
Kaia harkte weiter, das Laub lag in einem gelben Kreis um sie herum.
Der Zweig direkt über Helene war schwarz, an seinem äußersten Ende hing ein roter, verfrorener Apfel.
»Was liest du?«
»Was ich lese? Die Wildente natürlich.«
»Ja, natürlich. Und läuft es gut?«
Helene legte das Manuskript hin und schaute zu ihm auf.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Eine Weile blieb sie sitzen und betrachtete ihn.
»Was ist los?«, wiederholte sie.
»Ich bin nur ein wenig müde.«
Eine Windböe fegte das Laub davon, und Kaia blieb mitten in einem gelben Sturm stehen. Peter ging zu ihr und versuchte, die Blätter einzufangen, einige waren ganz trocken und zerbröselten zwischen den Fingern zu Staub und verschwanden, andere waren feucht, entwischten ihm und fielen woanders im Garten wieder hinunter, es war unmöglich, alle zu erwischen. Zum Schluss hockte er sich vor seine Tochter.
Ihre Augen waren grün.
Sie hatte die Augen ihrer Mutter.
»Komm, wir lassen das Laub bis zum nächsten Frühjahr liegen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Ja, dann können sich die Blätter unter dem Schnee ausruhen.«
Lachend zeigte Kaia auf ihn.
»Jetzt hast du dir wieder ins Gesicht gemalt.«
»Und welche Farbe?«
Sie ließ den Rechen fallen und drückte mit dem Zeigefinger auf seine Stirn.
»Blau.«
»Nur blau?«
»Schwarz auch.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Ein bisschen braun.«
»Braun?«
»Ja. Da. Und weiß. Auf der Nase.«
»Wie sieht es aus?«
Kaia musste überlegen, während sie einander in die Augen sahen, und wieder einmal war Peter Wihl überwältigt von diesem grünen Blick, dem Blick seines Kindes, offen, unverfälscht, so unbenutzt, als würde alles immer zum ersten Mal gesehen.
Doch dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise.
»Du weißt es nicht?«
Kaia schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
Und dann sagte sie diese merkwürdigen Worte, ihre Stimme klang fast ängstlich, und Peter bekam tatsächlich Angst:
»Du siehst dir selbst nicht ähnlich.«
Er versuchte zu lachen, es wegzulachen.
»Ich sehe mir selbst nicht ähnlich?«
Kaia schüttelte wieder den Kopf.
Helene stand von der Bank auf, der Wind blätterte im Manuskript, Seite für Seite, sie kam zu ihnen. Peter richtete sich langsam auf. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Es war bereits dunkel geworden.
»Ruh dich noch ein bisschen aus, bevor sie kommen«, sagte sie.
»Kommen? Wer kommt?«
Kaia rief es zuerst:
»Onkel Ben!«
Peter seufzte.
»Onkel Ben.«
Helene lehnte sich an ihn.
»Hattest du es vergessen?«
»Jetzt fällt es mir wieder ein. Onkel Ben kommt.«
»Mit Begleitung.«
»Mein Gott. Schon wieder mit Begleitung?«
Kaia lachte, als wäre sie erleichtert, über etwas sprechen zu können, auf das sie sich schon gefreut hatte.
»Onkel Ben mit Begleitung!«
»Und Essen«, fügte Helene hinzu.
Und Peter tat, wie sie gesagt hatte, er ging ins Atelier und legte sich dort auf den Schlafboden. Bald war er eingeschlafen, in dem Geruch von Terpentin, nicht tief, nur direkt unter die Oberfläche getaucht, am Rande des Schlafs, dennoch reichte es, um zu träumen: Er steht allein auf dem Schulhof, an der Wasserfontäne, er ist vielleicht elf Jahre alt, er friert. Da kommt ein anderer Junge zu ihm. Peter, auch im Traum heißt er ja wohl so, bekommt Angst, tritt einen Schritt zurück, doch der Junge, der größer und schwerer ist als er, bleibt erst stehen, als er ganz nahe gekommen ist, direkt vor ihm. Der Junge fragt: Wenn du wählen könntest, würdest du lieber blind oder taub sein? Und in dem Moment wachte Peter auf, die Antwort auf die Frage des Traums auf der Zunge: Das ist keine Wahl. Das ist eine Drohung.
Und ebenso plötzlich erinnerte er sich an Kaias merkwürdige, erschreckende Worte: Du siehst dir selbst nicht ähnlich.
Er stand auf, duschte, anschließend beugte er sich dem matten Spiegel entgegen, der mit der Zeit wieder glänzend und klar wurde, sein Gesicht näherte sich, als käme er aus dem Nebel, und er konnte nichts anderes feststellen, als dass er der war, der er nun...
Das Aufnahmegerät lag zwischen uns auf dem Tisch. Ich überprüfte, ob es auch funktionierte. Es funktionierte. Peter Wihls Stimme war überall. Er sprach weiter. Ich kann nicht behaupten, dass ich jedes Wort verstand, aber ich würde ja Zeit haben, es mir genauer anzuhören, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Nach einer Weile unterbrach ich ihn, vielleicht war es der Champagner, der mir den Mut dazu gab, und kam direkt zur Sache.
»Hatten Sie jemals Angst, nicht fertig zu werden?«, fragte ich.
Ich hörte etwas zu Boden fallen, vielleicht eine Gabel, er aß nämlich einen Kuchen.
»Fertig?«
Ich bin mir sicher, dass er wusste, was ich meinte. Trotzdem war ich gezwungen zu sagen:
»Fertig mit der Ausstellung, solange Sie noch sehen können.«
Er kam dicht an mich heran, seine Stimme klang gepresst, rechthaberisch.
»Man vollendet ein Bild nicht. Man verlässt es.«
Er verstummte, wandte sich wieder von mir ab, ich hörte es an seinem Atem, und ich hatte Angst, alles kaputtgemacht zu haben. Ich wollte etwas sagen und suchte nach den richtigen Worten, ich wollte etwas dahingehend sagen, dass ich der Meinung sei, das wäre schön und schrecklich zugleich, dass man nichts vollendet, sondern alles verlässt, doch bevor ich so weit kam, muss er jemanden durchs Fenster hindurch gesehen haben, denn er sprang plötzlich auf, und jetzt klang seine Stimme erleichtert, fast hell: »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Meine Frau und meine Tochter sind da.«
Dann ging Peter Wihl auf die Straße hinaus, um sie zu treffen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er sein Sehvermögen verloren.
Peter Wihl arbeitete im Atelier, an einem Oktobernachmittag, mit Gemälden für die Jubiläumsausstellung, zwölf große Leinwände. Er hatte seine Uniform angezogen, er war bereit für den Krieg: nackte Füße in ausgetretenen Sandalen, der lange, schmutzige Kittel, ein Schal um den Hals. Er war fertig mit der Grundierung. Jetzt fehlte nur noch die Kunst. Und er war in dieser kreativen Stimmung, die sich ab und zu einstellt, fast wie ein nüchterner Rausch. Die Hand war sicher und gehorchte. Die Gedanken waren deutlich. Er wusste, wohin er wollte. Es ging nur darum, den Weg zu finden. Er bewegte sich unangestrengt von Motiv zu Motiv, das langsam aber sicher Form annahm, anatomische Ausschnitte, Muskeln, ein Schulterblatt, eine Sehne, ein Fingerglied. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal so eine Kontrolle erlebt hatte, jetzt beherrschte er sein Werkzeug, er beherrschte seine Arbeit, genau in dem Moment, in dem die Arbeit zu Kunst erhoben werden sollte, in dem Moment, in dem das Handwerk, die Mühe, zu glänzen beginnen sollte, und das ähnelte fast dem Zustand von Glück. Das war das Glück. Doch plötzlich spürte er einen schrecklichen Schmerz in den Augen, als würde etwas in ihnen zerbrechen und Risse bekommen, es war, als würden sich die Augen mit Staub füllen. Die Farben glitten übereinander, die Linien lösten sich auf, die Perspektive verschwand, ihm wurde regelrecht schwarz vor Augen, und er sank zu Boden. Es dauerte nicht lange. Es war schon gleich vorbei. Nur das Echo der Schmerzen konnte er hören, seinen eigenen, schweren Herzschlag. Peter Wihl kniete sich hin und stützte lange Zeit die Stirn in die Hände. Er kam wieder zu sich. Alles fiel an seinen Platz, ebenso schnell, wie es kaputtgegangen war. Er stand auf, langsam, und als er sich den hohen Fenstern zuwandte, konnte er Helene und Kaia hinten im Garten sehen, eingerahmt von den Fenstersprossen, im schwindenden Oktoberlicht, und all das, was er sah, erfüllte ihn mit einer Freude, oder einer Erleichterung, so tief, so umfassend, dass er fast zu weinen begann, weil er kurz zuvor in der Dunkelheit gewesen war. Helene saß auf der weißen Bank unter dem Apfelbaum und blätterte in einem Manuskript, ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar, die violetten Handschuhe ohne Finger, der ockerfarbene Mantel, nie zuvor hatte er sie deutlicher vor sich gesehen, während Kaia Laub harkte, mit einem Rechen, der viel zu groß für sie war. Und Peter Wihl dachte, dass er nie diese beiden Menschen gemalt hatte, weder seine Ehefrau noch seine Tochter.
Vielleicht war das der Grund: Sie standen ihm zu nah, er traute sich nicht.
Er zog seine Windjacke an und ging zu ihnen hinaus.
Kaia harkte weiter, das Laub lag in einem gelben Kreis um sie herum.
Der Zweig direkt über Helene war schwarz, an seinem äußersten Ende hing ein roter, verfrorener Apfel.
»Was liest du?«
»Was ich lese? Die Wildente natürlich.«
»Ja, natürlich. Und läuft es gut?«
Helene legte das Manuskript hin und schaute zu ihm auf.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Eine Weile blieb sie sitzen und betrachtete ihn.
»Was ist los?«, wiederholte sie.
»Ich bin nur ein wenig müde.«
Eine Windböe fegte das Laub davon, und Kaia blieb mitten in einem gelben Sturm stehen. Peter ging zu ihr und versuchte, die Blätter einzufangen, einige waren ganz trocken und zerbröselten zwischen den Fingern zu Staub und verschwanden, andere waren feucht, entwischten ihm und fielen woanders im Garten wieder hinunter, es war unmöglich, alle zu erwischen. Zum Schluss hockte er sich vor seine Tochter.
Ihre Augen waren grün.
Sie hatte die Augen ihrer Mutter.
»Komm, wir lassen das Laub bis zum nächsten Frühjahr liegen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Ja, dann können sich die Blätter unter dem Schnee ausruhen.«
Lachend zeigte Kaia auf ihn.
»Jetzt hast du dir wieder ins Gesicht gemalt.«
»Und welche Farbe?«
Sie ließ den Rechen fallen und drückte mit dem Zeigefinger auf seine Stirn.
»Blau.«
»Nur blau?«
»Schwarz auch.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Ein bisschen braun.«
»Braun?«
»Ja. Da. Und weiß. Auf der Nase.«
»Wie sieht es aus?«
Kaia musste überlegen, während sie einander in die Augen sahen, und wieder einmal war Peter Wihl überwältigt von diesem grünen Blick, dem Blick seines Kindes, offen, unverfälscht, so unbenutzt, als würde alles immer zum ersten Mal gesehen.
Doch dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise.
»Du weißt es nicht?«
Kaia schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
Und dann sagte sie diese merkwürdigen Worte, ihre Stimme klang fast ängstlich, und Peter bekam tatsächlich Angst:
»Du siehst dir selbst nicht ähnlich.«
Er versuchte zu lachen, es wegzulachen.
»Ich sehe mir selbst nicht ähnlich?«
Kaia schüttelte wieder den Kopf.
Helene stand von der Bank auf, der Wind blätterte im Manuskript, Seite für Seite, sie kam zu ihnen. Peter richtete sich langsam auf. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Es war bereits dunkel geworden.
»Ruh dich noch ein bisschen aus, bevor sie kommen«, sagte sie.
»Kommen? Wer kommt?«
Kaia rief es zuerst:
»Onkel Ben!«
Peter seufzte.
»Onkel Ben.«
Helene lehnte sich an ihn.
»Hattest du es vergessen?«
»Jetzt fällt es mir wieder ein. Onkel Ben kommt.«
»Mit Begleitung.«
»Mein Gott. Schon wieder mit Begleitung?«
Kaia lachte, als wäre sie erleichtert, über etwas sprechen zu können, auf das sie sich schon gefreut hatte.
»Onkel Ben mit Begleitung!«
»Und Essen«, fügte Helene hinzu.
Und Peter tat, wie sie gesagt hatte, er ging ins Atelier und legte sich dort auf den Schlafboden. Bald war er eingeschlafen, in dem Geruch von Terpentin, nicht tief, nur direkt unter die Oberfläche getaucht, am Rande des Schlafs, dennoch reichte es, um zu träumen: Er steht allein auf dem Schulhof, an der Wasserfontäne, er ist vielleicht elf Jahre alt, er friert. Da kommt ein anderer Junge zu ihm. Peter, auch im Traum heißt er ja wohl so, bekommt Angst, tritt einen Schritt zurück, doch der Junge, der größer und schwerer ist als er, bleibt erst stehen, als er ganz nahe gekommen ist, direkt vor ihm. Der Junge fragt: Wenn du wählen könntest, würdest du lieber blind oder taub sein? Und in dem Moment wachte Peter auf, die Antwort auf die Frage des Traums auf der Zunge: Das ist keine Wahl. Das ist eine Drohung.
Und ebenso plötzlich erinnerte er sich an Kaias merkwürdige, erschreckende Worte: Du siehst dir selbst nicht ähnlich.
Er stand auf, duschte, anschließend beugte er sich dem matten Spiegel entgegen, der mit der Zeit wieder glänzend und klar wurde, sein Gesicht näherte sich, als käme er aus dem Nebel, und er konnte nichts anderes feststellen, als dass er der war, der er nun...
Als ich endlich die Gelegenheit bekam, den Maler Peter Wihl zu interviewen, an jenem Abend, an dem er fünfzig Jahre alt geworden war und seine neue Ausstellung eröffnet hatte, sollte es sich herausstellen, dass wir dieses Interview aufgrund des schrecklichen Unfalls, der sich unmittelbar danach ereignete, nicht drucken konnten. Wir saßen im Restaurant, direkt gegenüber der Galerie, aus der ich immer noch Leute kommen und gehen hören konnte. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, Peter Wihl so in Beschlag zu nehmen, den Jubilar des Abends, aber er selbst war derjenige gewesen, der vorschlug, dass wir hierhergehen und reden sollten. Er wirkte zugleich nervös und erwartungsvoll, was nicht weiter verwunderlich war, seine Ausstellung war ja gerade eben eröffnet worden, und auch sonst gab es genug, worüber er nachdenken musste, er drehte sich immer wieder zum Fenster um, das bemerkte ich, während er sprach. Er bestellte sogar Champagner für mich. Und ich hatte das Gefühl, dass ein Großteil dessen, was er von sich gab, aus Zitaten bestand, etwas, das er gelesen oder gehört hatte, sich von anderen geborgt, ich kann es nicht genauer erklären, insbesondere, als er das über Satan sagte, dass Satan derjenige gewesen sei, der die Farben von den Gegenständen befreit hätte. Und gleichzeitig war es so, als wollte er eigentlich etwas anderes sagen, mehr, er hatte so viel auf dem Herzen, vielleicht war er deshalb auch so ungeduldig, er hatte mir bereits früher gesagt, er wolle mir alles erzählen, ohne dass ich wusste, was das zu bedeuten hatte.
Das Aufnahmegerät lag zwischen uns auf dem Tisch. Ich überprüfte, ob es auch funktionierte. Es funktionierte. Peter Wihls Stimme war überall. Er sprach weiter. Ich kann nicht behaupten, dass ich jedes Wort verstand, aber ich würde ja Zeit haben, es mir genauer anzuhören, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Nach einer Weile unterbrach ich ihn, vielleicht war es der Champagner, der mir den Mut dazu gab, und kam direkt zur Sache.
»Hatten Sie jemals Angst, nicht fertig zu werden?«, fragte ich.
Ich hörte etwas zu Boden fallen, vielleicht eine Gabel, er aß nämlich einen Kuchen.
»Fertig?«
Ich bin mir sicher, dass er wusste, was ich meinte. Trotzdem war ich gezwungen zu sagen:
»Fertig mit der Ausstellung, solange Sie noch sehen können.«
Er kam dicht an mich heran, seine Stimme klang gepresst, rechthaberisch.
»Man vollendet ein Bild nicht. Man verlässt es.«
Er verstummte, wandte sich wieder von mir ab, ich hörte es an seinem Atem, und ich hatte Angst, alles kaputtgemacht zu haben. Ich wollte etwas sagen und suchte nach den richtigen Worten, ich wollte etwas dahingehend sagen, dass ich der Meinung sei, das wäre schön und schrecklich zugleich, dass man nichts vollendet, sondern alles verlässt, doch bevor ich so weit kam, muss er jemanden durchs Fenster hindurch gesehen haben, denn er sprang plötzlich auf, und jetzt klang seine Stimme erleichtert, fast hell: »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Meine Frau und meine Tochter sind da.«
Dann ging Peter Wihl auf die Straße hinaus, um sie zu treffen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er sein Sehvermögen verloren.
Peter Wihl arbeitete im Atelier, an einem Oktobernachmittag, mit Gemälden für die Jubiläumsausstellung, zwölf große Leinwände. Er hatte seine Uniform angezogen, er war bereit für den Krieg: nackte Füße in ausgetretenen Sandalen, der lange, schmutzige Kittel, ein Schal um den Hals. Er war fertig mit der Grundierung. Jetzt fehlte nur noch die Kunst. Und er war in dieser kreativen Stimmung, die sich ab und zu einstellt, fast wie ein nüchterner Rausch. Die Hand war sicher und gehorchte. Die Gedanken waren deutlich. Er wusste, wohin er wollte. Es ging nur darum, den Weg zu finden. Er bewegte sich unangestrengt von Motiv zu Motiv, das langsam aber sicher Form annahm, anatomische Ausschnitte, Muskeln, ein Schulterblatt, eine Sehne, ein Fingerglied. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal so eine Kontrolle erlebt hatte, jetzt beherrschte er sein Werkzeug, er beherrschte seine Arbeit, genau in dem Moment, in dem die Arbeit zu Kunst erhoben werden sollte, in dem Moment, in dem das Handwerk, die Mühe, zu glänzen beginnen sollte, und das ähnelte fast dem Zustand von Glück. Das war das Glück. Doch plötzlich spürte er einen schrecklichen Schmerz in den Augen, als würde etwas in ihnen zerbrechen und Risse bekommen, es war, als würden sich die Augen mit Staub füllen. Die Farben glitten übereinander, die Linien lösten sich auf, die Perspektive verschwand, ihm wurde regelrecht schwarz vor Augen, und er sank zu Boden. Es dauerte nicht lange. Es war schon gleich vorbei. Nur das Echo der Schmerzen konnte er hören, seinen eigenen, schweren Herzschlag. Peter Wihl kniete sich hin und stützte lange Zeit die Stirn in die Hände. Er kam wieder zu sich. Alles fiel an seinen Platz, ebenso schnell, wie es kaputtgegangen war. Er stand auf, langsam, und als er sich den hohen Fenstern zuwandte, konnte er Helene und Kaia hinten im Garten sehen, eingerahmt von den Fenstersprossen, im schwindenden Oktoberlicht, und all das, was er sah, erfüllte ihn mit einer Freude, oder einer Erleichterung, so tief, so umfassend, dass er fast zu weinen begann, weil er kurz zuvor in der Dunkelheit gewesen war. Helene saß auf der weißen Bank unter dem Apfelbaum und blätterte in einem Manuskript, ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar, die violetten Handschuhe ohne Finger, der ockerfarbene Mantel, nie zuvor hatte er sie deutlicher vor sich gesehen, während Kaia Laub harkte, mit einem Rechen, der viel zu groß für sie war. Und Peter Wihl dachte, dass er nie diese beiden Menschen gemalt hatte, weder seine Ehefrau noch seine Tochter.
Vielleicht war das der Grund: Sie standen ihm zu nah, er traute sich nicht.
Er zog seine Windjacke an und ging zu ihnen hinaus.
Kaia harkte weiter, das Laub lag in einem gelben Kreis um sie herum.
Der Zweig direkt über Helene war schwarz, an seinem äußersten Ende hing ein roter, verfrorener Apfel.
»Was liest du?«
»Was ich lese? Die Wildente natürlich.«
»Ja, natürlich. Und läuft es gut?«
Helene legte das Manuskript hin und schaute zu ihm auf.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Eine Weile blieb sie sitzen und betrachtete ihn.
»Was ist los?«, wiederholte sie.
»Ich bin nur ein wenig müde.«
Eine Windböe fegte das Laub davon, und Kaia blieb mitten in einem gelben Sturm stehen. Peter ging zu ihr und versuchte, die Blätter einzufangen, einige waren ganz trocken und zerbröselten zwischen den Fingern zu Staub und verschwanden, andere waren feucht, entwischten ihm und fielen woanders im Garten wieder hinunter, es war unmöglich, alle zu erwischen. Zum Schluss hockte er sich vor seine Tochter.
Ihre Augen waren grün.
Sie hatte die Augen ihrer Mutter.
»Komm, wir lassen das Laub bis zum nächsten Frühjahr liegen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Ja, dann können sich die Blätter unter dem Schnee ausruhen.«
Lachend zeigte Kaia auf ihn.
»Jetzt hast du dir wieder ins Gesicht gemalt.«
»Und welche Farbe?«
Sie ließ den Rechen fallen und drückte mit dem Zeigefinger auf seine Stirn.
»Blau.«
»Nur blau?«
»Schwarz auch.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Ein bisschen braun.«
»Braun?«
»Ja. Da. Und weiß. Auf der Nase.«
»Wie sieht es aus?«
Kaia musste überlegen, während sie einander in die Augen sahen, und wieder einmal war Peter Wihl überwältigt von diesem grünen Blick, dem Blick seines Kindes, offen, unverfälscht, so unbenutzt, als würde alles immer zum ersten Mal gesehen.
Doch dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise.
»Du weißt es nicht?«
Kaia schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
Und dann sagte sie diese merkwürdigen Worte, ihre Stimme klang fast ängstlich, und Peter bekam tatsächlich Angst:
»Du siehst dir selbst nicht ähnlich.«
Er versuchte zu lachen, es wegzulachen.
»Ich sehe mir selbst nicht ähnlich?«
Kaia schüttelte wieder den Kopf.
Helene stand von der Bank auf, der Wind blätterte im Manuskript, Seite für Seite, sie kam zu ihnen. Peter richtete sich langsam auf. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Es war bereits dunkel geworden.
»Ruh dich noch ein bisschen aus, bevor sie kommen«, sagte sie.
»Kommen? Wer kommt?«
Kaia rief es zuerst:
»Onkel Ben!«
Peter seufzte.
»Onkel Ben.«
Helene lehnte sich an ihn.
»Hattest du es vergessen?«
»Jetzt fällt es mir wieder ein. Onkel Ben kommt.«
»Mit Begleitung.«
»Mein Gott. Schon wieder mit Begleitung?«
Kaia lachte, als wäre sie erleichtert, über etwas sprechen zu können, auf das sie sich schon gefreut hatte.
»Onkel Ben mit Begleitung!«
»Und Essen«, fügte Helene hinzu.
Und Peter tat, wie sie gesagt hatte, er ging ins Atelier und legte sich dort auf den Schlafboden. Bald war er eingeschlafen, in dem Geruch von Terpentin, nicht tief, nur direkt unter die Oberfläche getaucht, am Rande des Schlafs, dennoch reichte es, um zu träumen: Er steht allein auf dem Schulhof, an der Wasserfontäne, er ist vielleicht elf Jahre alt, er friert. Da kommt ein anderer Junge zu ihm. Peter, auch im Traum heißt er ja wohl so, bekommt Angst, tritt einen Schritt zurück, doch der Junge, der größer und schwerer ist als er, bleibt erst stehen, als er ganz nahe gekommen ist, direkt vor ihm. Der Junge fragt: Wenn du wählen könntest, würdest du lieber blind oder taub sein? Und in dem Moment wachte Peter auf, die Antwort auf die Frage des Traums auf der Zunge: Das ist keine Wahl. Das ist eine Drohung.
Und ebenso plötzlich erinnerte er sich an Kaias merkwürdige, erschreckende Worte: Du siehst dir selbst nicht ähnlich.
Er stand auf, duschte, anschließend beugte er sich dem matten Spiegel entgegen, der mit der Zeit wieder glänzend und klar wurde, sein Gesicht näherte sich, als käme er aus dem Nebel, und er konnte nichts anderes feststellen, als dass er der war, der er nun...
Das Aufnahmegerät lag zwischen uns auf dem Tisch. Ich überprüfte, ob es auch funktionierte. Es funktionierte. Peter Wihls Stimme war überall. Er sprach weiter. Ich kann nicht behaupten, dass ich jedes Wort verstand, aber ich würde ja Zeit haben, es mir genauer anzuhören, wenn ich wieder zu Hause sein würde. Nach einer Weile unterbrach ich ihn, vielleicht war es der Champagner, der mir den Mut dazu gab, und kam direkt zur Sache.
»Hatten Sie jemals Angst, nicht fertig zu werden?«, fragte ich.
Ich hörte etwas zu Boden fallen, vielleicht eine Gabel, er aß nämlich einen Kuchen.
»Fertig?«
Ich bin mir sicher, dass er wusste, was ich meinte. Trotzdem war ich gezwungen zu sagen:
»Fertig mit der Ausstellung, solange Sie noch sehen können.«
Er kam dicht an mich heran, seine Stimme klang gepresst, rechthaberisch.
»Man vollendet ein Bild nicht. Man verlässt es.«
Er verstummte, wandte sich wieder von mir ab, ich hörte es an seinem Atem, und ich hatte Angst, alles kaputtgemacht zu haben. Ich wollte etwas sagen und suchte nach den richtigen Worten, ich wollte etwas dahingehend sagen, dass ich der Meinung sei, das wäre schön und schrecklich zugleich, dass man nichts vollendet, sondern alles verlässt, doch bevor ich so weit kam, muss er jemanden durchs Fenster hindurch gesehen haben, denn er sprang plötzlich auf, und jetzt klang seine Stimme erleichtert, fast hell: »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Meine Frau und meine Tochter sind da.«
Dann ging Peter Wihl auf die Straße hinaus, um sie zu treffen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er sein Sehvermögen verloren.
Peter Wihl arbeitete im Atelier, an einem Oktobernachmittag, mit Gemälden für die Jubiläumsausstellung, zwölf große Leinwände. Er hatte seine Uniform angezogen, er war bereit für den Krieg: nackte Füße in ausgetretenen Sandalen, der lange, schmutzige Kittel, ein Schal um den Hals. Er war fertig mit der Grundierung. Jetzt fehlte nur noch die Kunst. Und er war in dieser kreativen Stimmung, die sich ab und zu einstellt, fast wie ein nüchterner Rausch. Die Hand war sicher und gehorchte. Die Gedanken waren deutlich. Er wusste, wohin er wollte. Es ging nur darum, den Weg zu finden. Er bewegte sich unangestrengt von Motiv zu Motiv, das langsam aber sicher Form annahm, anatomische Ausschnitte, Muskeln, ein Schulterblatt, eine Sehne, ein Fingerglied. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal so eine Kontrolle erlebt hatte, jetzt beherrschte er sein Werkzeug, er beherrschte seine Arbeit, genau in dem Moment, in dem die Arbeit zu Kunst erhoben werden sollte, in dem Moment, in dem das Handwerk, die Mühe, zu glänzen beginnen sollte, und das ähnelte fast dem Zustand von Glück. Das war das Glück. Doch plötzlich spürte er einen schrecklichen Schmerz in den Augen, als würde etwas in ihnen zerbrechen und Risse bekommen, es war, als würden sich die Augen mit Staub füllen. Die Farben glitten übereinander, die Linien lösten sich auf, die Perspektive verschwand, ihm wurde regelrecht schwarz vor Augen, und er sank zu Boden. Es dauerte nicht lange. Es war schon gleich vorbei. Nur das Echo der Schmerzen konnte er hören, seinen eigenen, schweren Herzschlag. Peter Wihl kniete sich hin und stützte lange Zeit die Stirn in die Hände. Er kam wieder zu sich. Alles fiel an seinen Platz, ebenso schnell, wie es kaputtgegangen war. Er stand auf, langsam, und als er sich den hohen Fenstern zuwandte, konnte er Helene und Kaia hinten im Garten sehen, eingerahmt von den Fenstersprossen, im schwindenden Oktoberlicht, und all das, was er sah, erfüllte ihn mit einer Freude, oder einer Erleichterung, so tief, so umfassend, dass er fast zu weinen begann, weil er kurz zuvor in der Dunkelheit gewesen war. Helene saß auf der weißen Bank unter dem Apfelbaum und blätterte in einem Manuskript, ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar, die violetten Handschuhe ohne Finger, der ockerfarbene Mantel, nie zuvor hatte er sie deutlicher vor sich gesehen, während Kaia Laub harkte, mit einem Rechen, der viel zu groß für sie war. Und Peter Wihl dachte, dass er nie diese beiden Menschen gemalt hatte, weder seine Ehefrau noch seine Tochter.
Vielleicht war das der Grund: Sie standen ihm zu nah, er traute sich nicht.
Er zog seine Windjacke an und ging zu ihnen hinaus.
Kaia harkte weiter, das Laub lag in einem gelben Kreis um sie herum.
Der Zweig direkt über Helene war schwarz, an seinem äußersten Ende hing ein roter, verfrorener Apfel.
»Was liest du?«
»Was ich lese? Die Wildente natürlich.«
»Ja, natürlich. Und läuft es gut?«
Helene legte das Manuskript hin und schaute zu ihm auf.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Eine Weile blieb sie sitzen und betrachtete ihn.
»Was ist los?«, wiederholte sie.
»Ich bin nur ein wenig müde.«
Eine Windböe fegte das Laub davon, und Kaia blieb mitten in einem gelben Sturm stehen. Peter ging zu ihr und versuchte, die Blätter einzufangen, einige waren ganz trocken und zerbröselten zwischen den Fingern zu Staub und verschwanden, andere waren feucht, entwischten ihm und fielen woanders im Garten wieder hinunter, es war unmöglich, alle zu erwischen. Zum Schluss hockte er sich vor seine Tochter.
Ihre Augen waren grün.
Sie hatte die Augen ihrer Mutter.
»Komm, wir lassen das Laub bis zum nächsten Frühjahr liegen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Ja, dann können sich die Blätter unter dem Schnee ausruhen.«
Lachend zeigte Kaia auf ihn.
»Jetzt hast du dir wieder ins Gesicht gemalt.«
»Und welche Farbe?«
Sie ließ den Rechen fallen und drückte mit dem Zeigefinger auf seine Stirn.
»Blau.«
»Nur blau?«
»Schwarz auch.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Ein bisschen braun.«
»Braun?«
»Ja. Da. Und weiß. Auf der Nase.«
»Wie sieht es aus?«
Kaia musste überlegen, während sie einander in die Augen sahen, und wieder einmal war Peter Wihl überwältigt von diesem grünen Blick, dem Blick seines Kindes, offen, unverfälscht, so unbenutzt, als würde alles immer zum ersten Mal gesehen.
Doch dann fiel ein Schatten über ihr Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise.
»Du weißt es nicht?«
Kaia schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
Und dann sagte sie diese merkwürdigen Worte, ihre Stimme klang fast ängstlich, und Peter bekam tatsächlich Angst:
»Du siehst dir selbst nicht ähnlich.«
Er versuchte zu lachen, es wegzulachen.
»Ich sehe mir selbst nicht ähnlich?«
Kaia schüttelte wieder den Kopf.
Helene stand von der Bank auf, der Wind blätterte im Manuskript, Seite für Seite, sie kam zu ihnen. Peter richtete sich langsam auf. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Es war bereits dunkel geworden.
»Ruh dich noch ein bisschen aus, bevor sie kommen«, sagte sie.
»Kommen? Wer kommt?«
Kaia rief es zuerst:
»Onkel Ben!«
Peter seufzte.
»Onkel Ben.«
Helene lehnte sich an ihn.
»Hattest du es vergessen?«
»Jetzt fällt es mir wieder ein. Onkel Ben kommt.«
»Mit Begleitung.«
»Mein Gott. Schon wieder mit Begleitung?«
Kaia lachte, als wäre sie erleichtert, über etwas sprechen zu können, auf das sie sich schon gefreut hatte.
»Onkel Ben mit Begleitung!«
»Und Essen«, fügte Helene hinzu.
Und Peter tat, wie sie gesagt hatte, er ging ins Atelier und legte sich dort auf den Schlafboden. Bald war er eingeschlafen, in dem Geruch von Terpentin, nicht tief, nur direkt unter die Oberfläche getaucht, am Rande des Schlafs, dennoch reichte es, um zu träumen: Er steht allein auf dem Schulhof, an der Wasserfontäne, er ist vielleicht elf Jahre alt, er friert. Da kommt ein anderer Junge zu ihm. Peter, auch im Traum heißt er ja wohl so, bekommt Angst, tritt einen Schritt zurück, doch der Junge, der größer und schwerer ist als er, bleibt erst stehen, als er ganz nahe gekommen ist, direkt vor ihm. Der Junge fragt: Wenn du wählen könntest, würdest du lieber blind oder taub sein? Und in dem Moment wachte Peter auf, die Antwort auf die Frage des Traums auf der Zunge: Das ist keine Wahl. Das ist eine Drohung.
Und ebenso plötzlich erinnerte er sich an Kaias merkwürdige, erschreckende Worte: Du siehst dir selbst nicht ähnlich.
Er stand auf, duschte, anschließend beugte er sich dem matten Spiegel entgegen, der mit der Zeit wieder glänzend und klar wurde, sein Gesicht näherte sich, als käme er aus dem Nebel, und er konnte nichts anderes feststellen, als dass er der war, der er nun...
Details
Erscheinungsjahr: | 2007 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Originaltitel: | Modellen |
Inhalt: | 320 S. |
ISBN-13: | 9783442736690 |
ISBN-10: | 3442736692 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Christensen, Lars Saabye |
Übersetzung: | Christel Hildebrandt |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 188 x 118 x 25 mm |
Von/Mit: | Lars Saabye Christensen |
Erscheinungsdatum: | 03.09.2007 |
Gewicht: | 0,299 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2007 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Originaltitel: | Modellen |
Inhalt: | 320 S. |
ISBN-13: | 9783442736690 |
ISBN-10: | 3442736692 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Christensen, Lars Saabye |
Übersetzung: | Christel Hildebrandt |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 188 x 118 x 25 mm |
Von/Mit: | Lars Saabye Christensen |
Erscheinungsdatum: | 03.09.2007 |
Gewicht: | 0,299 kg |
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