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Beschreibung
1
Er wusste genau, wie das Meer aussah, obwohl er tief verborgen in einer dunklen Mauernische stand, regungslos, ein steinerner Schatten im Schatten der Steine, von keinem Passanten bemerkt, nur von einer kleinen, räudigen Katze, die seine Stiefelspitze leckte. Wind war aufgekommen, auch wenn man hier in den Gassen nichts von ihm spürte. Doch er fühlte ihn mit dem ganzen Körper, ein unsichtbares Tuch, das ein ungeduldiger Gott mit großer Gewalt über die Dächer der Superba zerrte, dieser Stadt, die einen gefangen nahm mit der düsteren Schönheit ihrer allzu engen Gassen. Ein kurzer Gedanke durchfuhr ihn an die Zeit, die hinter ihm lag, und das reichte, um die Haltung des Mannes zu verändern. Er straffte sich, ballte unwillkürlich die Faust unter dem Mantel. Dann bückte er sich nach der Katze, packte sie und steckte sie in seine Manteltasche.
Er schloss die Augen, um den Hafen hinter diesen Mauern um so deutlicher zu sehen. Das Wasser in seinem Becken zuckte und kräuselte sich in der Seebrise, und die kleinen Wellenkronen darauf glänzten perlmuttfarben wie Schuppen eines frisch gefangenen Fisches. Jetzt roch er auch das Meer. Der Geruch des Wassers war stärker als der des Kots der Menschen und Tiere um ihn herum, als die Essensdünste, die aus den Fensterhöhlen über ihm drangen.
Noch etwas anderes nahm er nun deutlicher wahr: ein fernes Rauschen hinter den Häusern. Das war das eigentliche Meer, nicht jener armselige Teil von ihm, der im Hafenbecken gefangen lag. Jenes Meer war wild. Er wusste, es litt die Schiffe auf seinem Rücken nicht immer, sondern verschlang sie zuweilen, um sie in einem Magen voller grüner, bitterer Galle zu verdauen. Und es hatte einen breiten Rücken. Im Süden lag Afrika mit seinen unergründlichen Geheimnissen, im Osten das Land der Muselmane, das voller Rätsel war, und Griechenland mit seiner untergegangenen Kultur, im Norden Italien und Frankreich und im Westen Spanien, drei gewaltige und dennoch bröckelnde Quader im Bollwerk gegen das Andrängen der Horden unter dem Zeichen des Halbmondes. Nur einen winzigen Ausgang gab es zwischen Ceuta und Gibraltar, den mächtigen Säulen des Herkules. Das Meer war häufig wütend dort, so hieß es, als wollte es hinaus zum großen Außenmeer, dieser endlosen, grauen Salzwüste am Ende der Welt. Auch er wollte am liebsten dort hinaus, weg von diesem Land mit seinen leichtfertigen Bewohnern. Darum hatte er alles heimlich beobachtet, was an den Kaimauern geschah, und er hatte dabei seine langen Haare unter einer Kopfbedeckung verborgen, um nicht erkannt zu werden. Doch wer sollte ihn überhaupt erkennen können? Niemand rechnete mit ihm in dieser Stadt.
Er war aus dem letzten Ort fortgegangen, heimlich und schnell. Ein Pesttoter in einer Grube aus ungelöschtem Kalk konnte nicht schneller verschwinden, aufgefressen von der blasigen Hitze der weißen Erde. Und er war bereit, alles zu riskieren, nur um endlich diesem Wanderleben zu entkommen, das ihn seit Jahren mit seiner Ruhelosigkeit quälte. Jetzt hörte er das dünne Geläut einer Kirchenglocke, die die Gläubigen zur Nachtmette rief. Er griff in seine Hosentasche, holte einen eiförmigen Gegenstand hervor und klappte ihn auf. Die Zeiger standen auf Elf. Das Wunderwerk funktionierte also immer noch einwandfrei. Wie ein kleiner Käfig für den Vogel Zeit kam es ihm vor. Er hütete die Reiseuhr mit besonderer Sorgfalt, seit er sie in Nürnberg als Bezahlung für ein Gemälde erhalten hatte.
Wenig später stieg er vorsichtig ein paar glitschige Stufen die Molenmauer hinab zu einem kleinen Podest, das nur eine Handbreit übers Wasser ragte und von wo aus niedrige Boote beladen werden konnten. Er griff in seine Manteltasche, holte die Katze heraus und setzte sie neben sich. Die Augen des Tieres leuchteten im Mondlicht wie Chrysolith. Beide starrten sie in das dunkle, übelriechende Wasser, auf dem Blasen trieben. Sterne spiegelten sich darin, in kleinen Kreisen tanzend. Über der Reling eines Schiffes, das in der Nähe an der Mole vertäut war, sah er gegen den schwach leuchtenden Westhimmel die Silhouetten der Wächter. Er hörte ihre Stimmen, ihr Gelächter. Sie waren betrunken und immer noch dabei, weiter zu trinken. Das Wasser vor ihm war schwarz wie Pech, und eine Weile meinte er, einen Blick in Dantes Hölle zu werfen. Denn in all der Finsternis trieben seltsam schimmernde Geisterwesen vorbei, die ihn anzublicken schienen aus trüben, geschwollenen Augen.
Er musste lächeln. Niemand ahnte etwas von seinen verrückten Visionen. Nein, er war kein Maler wie alle anderen. Dafür nahm er einfach zu viel wahr, selbst hier in dieser wässrigen Finsternis vor ihm. Er war ein mittelmäßiger Künstler, und das lag daran, dass er die Dinge zu deutlich sah. Ein guter Maler musste über eine gewisse Blindheit verfügen, musste fähig sein, all das zu übersehen, was die Eindringlichkeit seines Werkes zu stören vermochte.
Er setzte sich und lehnte sich gegen die feuchte Mauer. Wie lange er so verharrt hatte, wusste er nicht. Nur dass sich die Katze an ihn schmiegte, spürte er, und dass ihr kleiner Körper ein wenig Wärme abgab, die jetzt in seine Handfläche drang. Er musste eingeschlafen sein, denn das Wasser wurde klarer, heller und schließlich grün wie ein kostbarer Smaragd. Der Morgen graute. Er stand auf, gähnte und reckte die Arme. Es war an der Zeit, sich eine billige Herberge zu suchen.
Der Mann war arm. Alles, was er besaß, hatte er in einem groben Leinensack verwahrt, den er auf der Schulter trug. Über dem Portal, durch das er die Innenstadt erneut betrat, hockte ein weißer Gott aus Marmor. Ruß und Schmutz hatten seinem ebenmäßigen Gesicht eine schwarze Maske übergestreift. Sie verbarg sein spöttisches Lächeln, das den Fußgängern galt, die vom Hafen kamen, mutig durch das Tor schritten und sich in dieses verwirrende Labyrinth enger Gassen begaben, die tiefen Messerschnitten glichen, Wunden, die sich zum Himmel hin zu schließen begannen. So eng waren sie, dass sich die Bewohner von einem Fenster zum gegenüberliegenden die Hand reichen oder bei einem Streit mühelos die Degenklingen kreuzen konnten. Manche dieser Sträßchen schienen über Nacht ihren Verlauf zu ändern. Jedenfalls konnte dies einem Fremden wie ihm so erscheinen. Die gestern noch durchschrittenen Wege waren verschwunden, oder sie krümmten sich anders, hatten ihre Namen geändert, mit der Folge, dass man leicht in die Irre ging. Wieder blieb er stehen. Er hatte sich verlaufen, wusste nicht mehr, wo er sich befand.
Jan Massys war Flame. Er war ein geachtetes Mitglied der Malergilde von Antwerpen gewesen, der berühmten Lukasgilde. Doch das war lange her. Man hatte ihn aus der Heimat verstoßen, davongejagt wie einen Verbrecher. Die Heilige Inquisition hatte sein ruhiges Leben an der Seite seiner Frau und seiner vier Kinder zerstört. Nie würde er die Tage und Nächte der Verhöre im Steen vergessen, jenem Teil der Antwerpener Burg, in dem die Inquisition residierte. Die dicken Mauern hatten nach dem Angstschweiß gestunken, den sie wie Schwämme von unzähligen Opfern aufgesogen hatten. Die meisten Fragen, die man ihm stellte, in zuvorkommendem Tonfall übrigens, hatten nach den Antworten geklungen, die man von ihm erwartete. Er hatte sein Heil in der Wahrheit gesucht, nichts abgeleugnet, weder seine Sympathien für die neue Frömmigkeit noch die heimlichen Treffen mit Gleichgesinnten. Vielleicht war dies ein Fehler gewesen, vielleicht hätte er leugnen sollen, andere denunzieren, die ihn denunziert hatten.
Der größte Fehler aber war die Tatsache gewesen, dass er einen Mann in seinem Atelier empfangen hatte, der sich von ihm porträtieren lassen wollte. Kein gewöhnlicher Mann, sondern ein berüchtigter Ketzer. Eligius Pruystinck, genannt Loy de Schaliedekker, Gründer und Haupt der Sekte der Loiisten. Jan Massys war kein Loiist. Das hatte er immer wieder beteuert, obwohl er zugeben musste, dass ihn die Thesen Pruystincks faszinierten. Er predigte die Zweiteilung des Menschen in eine innere und eine äußere Person. Nur die innere war Gott verantwortlich. Welch ein kühner Gedanke! Denn dies war nichts anderes als ein Freibrief für die Vergehen der äußeren Existenz. Alles schien plötzlich erlaubt, alle Ausschweifungen des Fleisches. Gewiss, es gab eine geistige und eine fleischliche Seite der Existenz. Aber er, Massys, strebte die Einheit dieser beiden Seiten an. Er wusste damals übrigens: Loy de Schaliedekker zu malen war gefährlich. Ein gutes Bild warb für die Ideen des Kopfes, der dargestellt war. Pruystinck hatte ein interessantes Gesicht. Es in Öl zu verewigen reizte Massys. Doch in den Augen der Kirche war es bereits Ketzerei, einen Ketzer zu malen. Er hatte den Auftrag abgelehnt, gegen sein Malergewissen, aber mit dem guten Grund, sich und seine Familie nicht in Schwierigkeiten bringen zu wollen. Doch da war es bereits zu spät gewesen. Sie hatten Jan Massys dennoch geholt. Jemand musste ihn denunziert haben.
Seine Familie war an jenem Tag auf dem Land gewesen. Vermutlich hatte man diesen Augenblick absichtlich gewählt. Mitten in der Nacht hatten ihn zwei fremde Männer geweckt. Sie hatten sich stumm über ihn hergemacht, ihn mit rohen Griffen auf den Rücken gedreht, ihm die Hände gebunden, eine Kapuze über den Kopf gestreift und ihn die Treppe hinuntergezerrt. Massys hatte alles willenlos mit sich geschehen lassen. Er wusste, dass man ihm bei der geringsten Gegenwehr einen Knebel in den Rachen stopfen und den Kopf in eine eiserne Gabel stecken würde, um ihn bewegungsunfähig zu machen.
Die Männer sprachen Spanisch. Nichts Ungewöhnliches, seitdem die Niederlande zur spanischen Krone gehörten. Sie schoben ihn in eine Kutsche mit schwarzen Vorhängen, und dann ging es durch die Stadt. Am Steen angelangt, dem mächtigen steinernen Gebäude direkt an der Schelde, führte man Massys durch lange Gänge und schob ihn schließlich in eine kleine Zelle, nicht mehr als zehn Fuß lang und sechs Fuß breit. Die Tür war so niedrig, dass man nur auf allen Vieren hindurchgelangen konnte. Die...
Er wusste genau, wie das Meer aussah, obwohl er tief verborgen in einer dunklen Mauernische stand, regungslos, ein steinerner Schatten im Schatten der Steine, von keinem Passanten bemerkt, nur von einer kleinen, räudigen Katze, die seine Stiefelspitze leckte. Wind war aufgekommen, auch wenn man hier in den Gassen nichts von ihm spürte. Doch er fühlte ihn mit dem ganzen Körper, ein unsichtbares Tuch, das ein ungeduldiger Gott mit großer Gewalt über die Dächer der Superba zerrte, dieser Stadt, die einen gefangen nahm mit der düsteren Schönheit ihrer allzu engen Gassen. Ein kurzer Gedanke durchfuhr ihn an die Zeit, die hinter ihm lag, und das reichte, um die Haltung des Mannes zu verändern. Er straffte sich, ballte unwillkürlich die Faust unter dem Mantel. Dann bückte er sich nach der Katze, packte sie und steckte sie in seine Manteltasche.
Er schloss die Augen, um den Hafen hinter diesen Mauern um so deutlicher zu sehen. Das Wasser in seinem Becken zuckte und kräuselte sich in der Seebrise, und die kleinen Wellenkronen darauf glänzten perlmuttfarben wie Schuppen eines frisch gefangenen Fisches. Jetzt roch er auch das Meer. Der Geruch des Wassers war stärker als der des Kots der Menschen und Tiere um ihn herum, als die Essensdünste, die aus den Fensterhöhlen über ihm drangen.
Noch etwas anderes nahm er nun deutlicher wahr: ein fernes Rauschen hinter den Häusern. Das war das eigentliche Meer, nicht jener armselige Teil von ihm, der im Hafenbecken gefangen lag. Jenes Meer war wild. Er wusste, es litt die Schiffe auf seinem Rücken nicht immer, sondern verschlang sie zuweilen, um sie in einem Magen voller grüner, bitterer Galle zu verdauen. Und es hatte einen breiten Rücken. Im Süden lag Afrika mit seinen unergründlichen Geheimnissen, im Osten das Land der Muselmane, das voller Rätsel war, und Griechenland mit seiner untergegangenen Kultur, im Norden Italien und Frankreich und im Westen Spanien, drei gewaltige und dennoch bröckelnde Quader im Bollwerk gegen das Andrängen der Horden unter dem Zeichen des Halbmondes. Nur einen winzigen Ausgang gab es zwischen Ceuta und Gibraltar, den mächtigen Säulen des Herkules. Das Meer war häufig wütend dort, so hieß es, als wollte es hinaus zum großen Außenmeer, dieser endlosen, grauen Salzwüste am Ende der Welt. Auch er wollte am liebsten dort hinaus, weg von diesem Land mit seinen leichtfertigen Bewohnern. Darum hatte er alles heimlich beobachtet, was an den Kaimauern geschah, und er hatte dabei seine langen Haare unter einer Kopfbedeckung verborgen, um nicht erkannt zu werden. Doch wer sollte ihn überhaupt erkennen können? Niemand rechnete mit ihm in dieser Stadt.
Er war aus dem letzten Ort fortgegangen, heimlich und schnell. Ein Pesttoter in einer Grube aus ungelöschtem Kalk konnte nicht schneller verschwinden, aufgefressen von der blasigen Hitze der weißen Erde. Und er war bereit, alles zu riskieren, nur um endlich diesem Wanderleben zu entkommen, das ihn seit Jahren mit seiner Ruhelosigkeit quälte. Jetzt hörte er das dünne Geläut einer Kirchenglocke, die die Gläubigen zur Nachtmette rief. Er griff in seine Hosentasche, holte einen eiförmigen Gegenstand hervor und klappte ihn auf. Die Zeiger standen auf Elf. Das Wunderwerk funktionierte also immer noch einwandfrei. Wie ein kleiner Käfig für den Vogel Zeit kam es ihm vor. Er hütete die Reiseuhr mit besonderer Sorgfalt, seit er sie in Nürnberg als Bezahlung für ein Gemälde erhalten hatte.
Wenig später stieg er vorsichtig ein paar glitschige Stufen die Molenmauer hinab zu einem kleinen Podest, das nur eine Handbreit übers Wasser ragte und von wo aus niedrige Boote beladen werden konnten. Er griff in seine Manteltasche, holte die Katze heraus und setzte sie neben sich. Die Augen des Tieres leuchteten im Mondlicht wie Chrysolith. Beide starrten sie in das dunkle, übelriechende Wasser, auf dem Blasen trieben. Sterne spiegelten sich darin, in kleinen Kreisen tanzend. Über der Reling eines Schiffes, das in der Nähe an der Mole vertäut war, sah er gegen den schwach leuchtenden Westhimmel die Silhouetten der Wächter. Er hörte ihre Stimmen, ihr Gelächter. Sie waren betrunken und immer noch dabei, weiter zu trinken. Das Wasser vor ihm war schwarz wie Pech, und eine Weile meinte er, einen Blick in Dantes Hölle zu werfen. Denn in all der Finsternis trieben seltsam schimmernde Geisterwesen vorbei, die ihn anzublicken schienen aus trüben, geschwollenen Augen.
Er musste lächeln. Niemand ahnte etwas von seinen verrückten Visionen. Nein, er war kein Maler wie alle anderen. Dafür nahm er einfach zu viel wahr, selbst hier in dieser wässrigen Finsternis vor ihm. Er war ein mittelmäßiger Künstler, und das lag daran, dass er die Dinge zu deutlich sah. Ein guter Maler musste über eine gewisse Blindheit verfügen, musste fähig sein, all das zu übersehen, was die Eindringlichkeit seines Werkes zu stören vermochte.
Er setzte sich und lehnte sich gegen die feuchte Mauer. Wie lange er so verharrt hatte, wusste er nicht. Nur dass sich die Katze an ihn schmiegte, spürte er, und dass ihr kleiner Körper ein wenig Wärme abgab, die jetzt in seine Handfläche drang. Er musste eingeschlafen sein, denn das Wasser wurde klarer, heller und schließlich grün wie ein kostbarer Smaragd. Der Morgen graute. Er stand auf, gähnte und reckte die Arme. Es war an der Zeit, sich eine billige Herberge zu suchen.
Der Mann war arm. Alles, was er besaß, hatte er in einem groben Leinensack verwahrt, den er auf der Schulter trug. Über dem Portal, durch das er die Innenstadt erneut betrat, hockte ein weißer Gott aus Marmor. Ruß und Schmutz hatten seinem ebenmäßigen Gesicht eine schwarze Maske übergestreift. Sie verbarg sein spöttisches Lächeln, das den Fußgängern galt, die vom Hafen kamen, mutig durch das Tor schritten und sich in dieses verwirrende Labyrinth enger Gassen begaben, die tiefen Messerschnitten glichen, Wunden, die sich zum Himmel hin zu schließen begannen. So eng waren sie, dass sich die Bewohner von einem Fenster zum gegenüberliegenden die Hand reichen oder bei einem Streit mühelos die Degenklingen kreuzen konnten. Manche dieser Sträßchen schienen über Nacht ihren Verlauf zu ändern. Jedenfalls konnte dies einem Fremden wie ihm so erscheinen. Die gestern noch durchschrittenen Wege waren verschwunden, oder sie krümmten sich anders, hatten ihre Namen geändert, mit der Folge, dass man leicht in die Irre ging. Wieder blieb er stehen. Er hatte sich verlaufen, wusste nicht mehr, wo er sich befand.
Jan Massys war Flame. Er war ein geachtetes Mitglied der Malergilde von Antwerpen gewesen, der berühmten Lukasgilde. Doch das war lange her. Man hatte ihn aus der Heimat verstoßen, davongejagt wie einen Verbrecher. Die Heilige Inquisition hatte sein ruhiges Leben an der Seite seiner Frau und seiner vier Kinder zerstört. Nie würde er die Tage und Nächte der Verhöre im Steen vergessen, jenem Teil der Antwerpener Burg, in dem die Inquisition residierte. Die dicken Mauern hatten nach dem Angstschweiß gestunken, den sie wie Schwämme von unzähligen Opfern aufgesogen hatten. Die meisten Fragen, die man ihm stellte, in zuvorkommendem Tonfall übrigens, hatten nach den Antworten geklungen, die man von ihm erwartete. Er hatte sein Heil in der Wahrheit gesucht, nichts abgeleugnet, weder seine Sympathien für die neue Frömmigkeit noch die heimlichen Treffen mit Gleichgesinnten. Vielleicht war dies ein Fehler gewesen, vielleicht hätte er leugnen sollen, andere denunzieren, die ihn denunziert hatten.
Der größte Fehler aber war die Tatsache gewesen, dass er einen Mann in seinem Atelier empfangen hatte, der sich von ihm porträtieren lassen wollte. Kein gewöhnlicher Mann, sondern ein berüchtigter Ketzer. Eligius Pruystinck, genannt Loy de Schaliedekker, Gründer und Haupt der Sekte der Loiisten. Jan Massys war kein Loiist. Das hatte er immer wieder beteuert, obwohl er zugeben musste, dass ihn die Thesen Pruystincks faszinierten. Er predigte die Zweiteilung des Menschen in eine innere und eine äußere Person. Nur die innere war Gott verantwortlich. Welch ein kühner Gedanke! Denn dies war nichts anderes als ein Freibrief für die Vergehen der äußeren Existenz. Alles schien plötzlich erlaubt, alle Ausschweifungen des Fleisches. Gewiss, es gab eine geistige und eine fleischliche Seite der Existenz. Aber er, Massys, strebte die Einheit dieser beiden Seiten an. Er wusste damals übrigens: Loy de Schaliedekker zu malen war gefährlich. Ein gutes Bild warb für die Ideen des Kopfes, der dargestellt war. Pruystinck hatte ein interessantes Gesicht. Es in Öl zu verewigen reizte Massys. Doch in den Augen der Kirche war es bereits Ketzerei, einen Ketzer zu malen. Er hatte den Auftrag abgelehnt, gegen sein Malergewissen, aber mit dem guten Grund, sich und seine Familie nicht in Schwierigkeiten bringen zu wollen. Doch da war es bereits zu spät gewesen. Sie hatten Jan Massys dennoch geholt. Jemand musste ihn denunziert haben.
Seine Familie war an jenem Tag auf dem Land gewesen. Vermutlich hatte man diesen Augenblick absichtlich gewählt. Mitten in der Nacht hatten ihn zwei fremde Männer geweckt. Sie hatten sich stumm über ihn hergemacht, ihn mit rohen Griffen auf den Rücken gedreht, ihm die Hände gebunden, eine Kapuze über den Kopf gestreift und ihn die Treppe hinuntergezerrt. Massys hatte alles willenlos mit sich geschehen lassen. Er wusste, dass man ihm bei der geringsten Gegenwehr einen Knebel in den Rachen stopfen und den Kopf in eine eiserne Gabel stecken würde, um ihn bewegungsunfähig zu machen.
Die Männer sprachen Spanisch. Nichts Ungewöhnliches, seitdem die Niederlande zur spanischen Krone gehörten. Sie schoben ihn in eine Kutsche mit schwarzen Vorhängen, und dann ging es durch die Stadt. Am Steen angelangt, dem mächtigen steinernen Gebäude direkt an der Schelde, führte man Massys durch lange Gänge und schob ihn schließlich in eine kleine Zelle, nicht mehr als zehn Fuß lang und sechs Fuß breit. Die Tür war so niedrig, dass man nur auf allen Vieren hindurchgelangen konnte. Die...
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Er wusste genau, wie das Meer aussah, obwohl er tief verborgen in einer dunklen Mauernische stand, regungslos, ein steinerner Schatten im Schatten der Steine, von keinem Passanten bemerkt, nur von einer kleinen, räudigen Katze, die seine Stiefelspitze leckte. Wind war aufgekommen, auch wenn man hier in den Gassen nichts von ihm spürte. Doch er fühlte ihn mit dem ganzen Körper, ein unsichtbares Tuch, das ein ungeduldiger Gott mit großer Gewalt über die Dächer der Superba zerrte, dieser Stadt, die einen gefangen nahm mit der düsteren Schönheit ihrer allzu engen Gassen. Ein kurzer Gedanke durchfuhr ihn an die Zeit, die hinter ihm lag, und das reichte, um die Haltung des Mannes zu verändern. Er straffte sich, ballte unwillkürlich die Faust unter dem Mantel. Dann bückte er sich nach der Katze, packte sie und steckte sie in seine Manteltasche.
Er schloss die Augen, um den Hafen hinter diesen Mauern um so deutlicher zu sehen. Das Wasser in seinem Becken zuckte und kräuselte sich in der Seebrise, und die kleinen Wellenkronen darauf glänzten perlmuttfarben wie Schuppen eines frisch gefangenen Fisches. Jetzt roch er auch das Meer. Der Geruch des Wassers war stärker als der des Kots der Menschen und Tiere um ihn herum, als die Essensdünste, die aus den Fensterhöhlen über ihm drangen.
Noch etwas anderes nahm er nun deutlicher wahr: ein fernes Rauschen hinter den Häusern. Das war das eigentliche Meer, nicht jener armselige Teil von ihm, der im Hafenbecken gefangen lag. Jenes Meer war wild. Er wusste, es litt die Schiffe auf seinem Rücken nicht immer, sondern verschlang sie zuweilen, um sie in einem Magen voller grüner, bitterer Galle zu verdauen. Und es hatte einen breiten Rücken. Im Süden lag Afrika mit seinen unergründlichen Geheimnissen, im Osten das Land der Muselmane, das voller Rätsel war, und Griechenland mit seiner untergegangenen Kultur, im Norden Italien und Frankreich und im Westen Spanien, drei gewaltige und dennoch bröckelnde Quader im Bollwerk gegen das Andrängen der Horden unter dem Zeichen des Halbmondes. Nur einen winzigen Ausgang gab es zwischen Ceuta und Gibraltar, den mächtigen Säulen des Herkules. Das Meer war häufig wütend dort, so hieß es, als wollte es hinaus zum großen Außenmeer, dieser endlosen, grauen Salzwüste am Ende der Welt. Auch er wollte am liebsten dort hinaus, weg von diesem Land mit seinen leichtfertigen Bewohnern. Darum hatte er alles heimlich beobachtet, was an den Kaimauern geschah, und er hatte dabei seine langen Haare unter einer Kopfbedeckung verborgen, um nicht erkannt zu werden. Doch wer sollte ihn überhaupt erkennen können? Niemand rechnete mit ihm in dieser Stadt.
Er war aus dem letzten Ort fortgegangen, heimlich und schnell. Ein Pesttoter in einer Grube aus ungelöschtem Kalk konnte nicht schneller verschwinden, aufgefressen von der blasigen Hitze der weißen Erde. Und er war bereit, alles zu riskieren, nur um endlich diesem Wanderleben zu entkommen, das ihn seit Jahren mit seiner Ruhelosigkeit quälte. Jetzt hörte er das dünne Geläut einer Kirchenglocke, die die Gläubigen zur Nachtmette rief. Er griff in seine Hosentasche, holte einen eiförmigen Gegenstand hervor und klappte ihn auf. Die Zeiger standen auf Elf. Das Wunderwerk funktionierte also immer noch einwandfrei. Wie ein kleiner Käfig für den Vogel Zeit kam es ihm vor. Er hütete die Reiseuhr mit besonderer Sorgfalt, seit er sie in Nürnberg als Bezahlung für ein Gemälde erhalten hatte.
Wenig später stieg er vorsichtig ein paar glitschige Stufen die Molenmauer hinab zu einem kleinen Podest, das nur eine Handbreit übers Wasser ragte und von wo aus niedrige Boote beladen werden konnten. Er griff in seine Manteltasche, holte die Katze heraus und setzte sie neben sich. Die Augen des Tieres leuchteten im Mondlicht wie Chrysolith. Beide starrten sie in das dunkle, übelriechende Wasser, auf dem Blasen trieben. Sterne spiegelten sich darin, in kleinen Kreisen tanzend. Über der Reling eines Schiffes, das in der Nähe an der Mole vertäut war, sah er gegen den schwach leuchtenden Westhimmel die Silhouetten der Wächter. Er hörte ihre Stimmen, ihr Gelächter. Sie waren betrunken und immer noch dabei, weiter zu trinken. Das Wasser vor ihm war schwarz wie Pech, und eine Weile meinte er, einen Blick in Dantes Hölle zu werfen. Denn in all der Finsternis trieben seltsam schimmernde Geisterwesen vorbei, die ihn anzublicken schienen aus trüben, geschwollenen Augen.
Er musste lächeln. Niemand ahnte etwas von seinen verrückten Visionen. Nein, er war kein Maler wie alle anderen. Dafür nahm er einfach zu viel wahr, selbst hier in dieser wässrigen Finsternis vor ihm. Er war ein mittelmäßiger Künstler, und das lag daran, dass er die Dinge zu deutlich sah. Ein guter Maler musste über eine gewisse Blindheit verfügen, musste fähig sein, all das zu übersehen, was die Eindringlichkeit seines Werkes zu stören vermochte.
Er setzte sich und lehnte sich gegen die feuchte Mauer. Wie lange er so verharrt hatte, wusste er nicht. Nur dass sich die Katze an ihn schmiegte, spürte er, und dass ihr kleiner Körper ein wenig Wärme abgab, die jetzt in seine Handfläche drang. Er musste eingeschlafen sein, denn das Wasser wurde klarer, heller und schließlich grün wie ein kostbarer Smaragd. Der Morgen graute. Er stand auf, gähnte und reckte die Arme. Es war an der Zeit, sich eine billige Herberge zu suchen.
Der Mann war arm. Alles, was er besaß, hatte er in einem groben Leinensack verwahrt, den er auf der Schulter trug. Über dem Portal, durch das er die Innenstadt erneut betrat, hockte ein weißer Gott aus Marmor. Ruß und Schmutz hatten seinem ebenmäßigen Gesicht eine schwarze Maske übergestreift. Sie verbarg sein spöttisches Lächeln, das den Fußgängern galt, die vom Hafen kamen, mutig durch das Tor schritten und sich in dieses verwirrende Labyrinth enger Gassen begaben, die tiefen Messerschnitten glichen, Wunden, die sich zum Himmel hin zu schließen begannen. So eng waren sie, dass sich die Bewohner von einem Fenster zum gegenüberliegenden die Hand reichen oder bei einem Streit mühelos die Degenklingen kreuzen konnten. Manche dieser Sträßchen schienen über Nacht ihren Verlauf zu ändern. Jedenfalls konnte dies einem Fremden wie ihm so erscheinen. Die gestern noch durchschrittenen Wege waren verschwunden, oder sie krümmten sich anders, hatten ihre Namen geändert, mit der Folge, dass man leicht in die Irre ging. Wieder blieb er stehen. Er hatte sich verlaufen, wusste nicht mehr, wo er sich befand.
Jan Massys war Flame. Er war ein geachtetes Mitglied der Malergilde von Antwerpen gewesen, der berühmten Lukasgilde. Doch das war lange her. Man hatte ihn aus der Heimat verstoßen, davongejagt wie einen Verbrecher. Die Heilige Inquisition hatte sein ruhiges Leben an der Seite seiner Frau und seiner vier Kinder zerstört. Nie würde er die Tage und Nächte der Verhöre im Steen vergessen, jenem Teil der Antwerpener Burg, in dem die Inquisition residierte. Die dicken Mauern hatten nach dem Angstschweiß gestunken, den sie wie Schwämme von unzähligen Opfern aufgesogen hatten. Die meisten Fragen, die man ihm stellte, in zuvorkommendem Tonfall übrigens, hatten nach den Antworten geklungen, die man von ihm erwartete. Er hatte sein Heil in der Wahrheit gesucht, nichts abgeleugnet, weder seine Sympathien für die neue Frömmigkeit noch die heimlichen Treffen mit Gleichgesinnten. Vielleicht war dies ein Fehler gewesen, vielleicht hätte er leugnen sollen, andere denunzieren, die ihn denunziert hatten.
Der größte Fehler aber war die Tatsache gewesen, dass er einen Mann in seinem Atelier empfangen hatte, der sich von ihm porträtieren lassen wollte. Kein gewöhnlicher Mann, sondern ein berüchtigter Ketzer. Eligius Pruystinck, genannt Loy de Schaliedekker, Gründer und Haupt der Sekte der Loiisten. Jan Massys war kein Loiist. Das hatte er immer wieder beteuert, obwohl er zugeben musste, dass ihn die Thesen Pruystincks faszinierten. Er predigte die Zweiteilung des Menschen in eine innere und eine äußere Person. Nur die innere war Gott verantwortlich. Welch ein kühner Gedanke! Denn dies war nichts anderes als ein Freibrief für die Vergehen der äußeren Existenz. Alles schien plötzlich erlaubt, alle Ausschweifungen des Fleisches. Gewiss, es gab eine geistige und eine fleischliche Seite der Existenz. Aber er, Massys, strebte die Einheit dieser beiden Seiten an. Er wusste damals übrigens: Loy de Schaliedekker zu malen war gefährlich. Ein gutes Bild warb für die Ideen des Kopfes, der dargestellt war. Pruystinck hatte ein interessantes Gesicht. Es in Öl zu verewigen reizte Massys. Doch in den Augen der Kirche war es bereits Ketzerei, einen Ketzer zu malen. Er hatte den Auftrag abgelehnt, gegen sein Malergewissen, aber mit dem guten Grund, sich und seine Familie nicht in Schwierigkeiten bringen zu wollen. Doch da war es bereits zu spät gewesen. Sie hatten Jan Massys dennoch geholt. Jemand musste ihn denunziert haben.
Seine Familie war an jenem Tag auf dem Land gewesen. Vermutlich hatte man diesen Augenblick absichtlich gewählt. Mitten in der Nacht hatten ihn zwei fremde Männer geweckt. Sie hatten sich stumm über ihn hergemacht, ihn mit rohen Griffen auf den Rücken gedreht, ihm die Hände gebunden, eine Kapuze über den Kopf gestreift und ihn die Treppe hinuntergezerrt. Massys hatte alles willenlos mit sich geschehen lassen. Er wusste, dass man ihm bei der geringsten Gegenwehr einen Knebel in den Rachen stopfen und den Kopf in eine eiserne Gabel stecken würde, um ihn bewegungsunfähig zu machen.
Die Männer sprachen Spanisch. Nichts Ungewöhnliches, seitdem die Niederlande zur spanischen Krone gehörten. Sie schoben ihn in eine Kutsche mit schwarzen Vorhängen, und dann ging es durch die Stadt. Am Steen angelangt, dem mächtigen steinernen Gebäude direkt an der Schelde, führte man Massys durch lange Gänge und schob ihn schließlich in eine kleine Zelle, nicht mehr als zehn Fuß lang und sechs Fuß breit. Die Tür war so niedrig, dass man nur auf allen Vieren hindurchgelangen konnte. Die...
Er wusste genau, wie das Meer aussah, obwohl er tief verborgen in einer dunklen Mauernische stand, regungslos, ein steinerner Schatten im Schatten der Steine, von keinem Passanten bemerkt, nur von einer kleinen, räudigen Katze, die seine Stiefelspitze leckte. Wind war aufgekommen, auch wenn man hier in den Gassen nichts von ihm spürte. Doch er fühlte ihn mit dem ganzen Körper, ein unsichtbares Tuch, das ein ungeduldiger Gott mit großer Gewalt über die Dächer der Superba zerrte, dieser Stadt, die einen gefangen nahm mit der düsteren Schönheit ihrer allzu engen Gassen. Ein kurzer Gedanke durchfuhr ihn an die Zeit, die hinter ihm lag, und das reichte, um die Haltung des Mannes zu verändern. Er straffte sich, ballte unwillkürlich die Faust unter dem Mantel. Dann bückte er sich nach der Katze, packte sie und steckte sie in seine Manteltasche.
Er schloss die Augen, um den Hafen hinter diesen Mauern um so deutlicher zu sehen. Das Wasser in seinem Becken zuckte und kräuselte sich in der Seebrise, und die kleinen Wellenkronen darauf glänzten perlmuttfarben wie Schuppen eines frisch gefangenen Fisches. Jetzt roch er auch das Meer. Der Geruch des Wassers war stärker als der des Kots der Menschen und Tiere um ihn herum, als die Essensdünste, die aus den Fensterhöhlen über ihm drangen.
Noch etwas anderes nahm er nun deutlicher wahr: ein fernes Rauschen hinter den Häusern. Das war das eigentliche Meer, nicht jener armselige Teil von ihm, der im Hafenbecken gefangen lag. Jenes Meer war wild. Er wusste, es litt die Schiffe auf seinem Rücken nicht immer, sondern verschlang sie zuweilen, um sie in einem Magen voller grüner, bitterer Galle zu verdauen. Und es hatte einen breiten Rücken. Im Süden lag Afrika mit seinen unergründlichen Geheimnissen, im Osten das Land der Muselmane, das voller Rätsel war, und Griechenland mit seiner untergegangenen Kultur, im Norden Italien und Frankreich und im Westen Spanien, drei gewaltige und dennoch bröckelnde Quader im Bollwerk gegen das Andrängen der Horden unter dem Zeichen des Halbmondes. Nur einen winzigen Ausgang gab es zwischen Ceuta und Gibraltar, den mächtigen Säulen des Herkules. Das Meer war häufig wütend dort, so hieß es, als wollte es hinaus zum großen Außenmeer, dieser endlosen, grauen Salzwüste am Ende der Welt. Auch er wollte am liebsten dort hinaus, weg von diesem Land mit seinen leichtfertigen Bewohnern. Darum hatte er alles heimlich beobachtet, was an den Kaimauern geschah, und er hatte dabei seine langen Haare unter einer Kopfbedeckung verborgen, um nicht erkannt zu werden. Doch wer sollte ihn überhaupt erkennen können? Niemand rechnete mit ihm in dieser Stadt.
Er war aus dem letzten Ort fortgegangen, heimlich und schnell. Ein Pesttoter in einer Grube aus ungelöschtem Kalk konnte nicht schneller verschwinden, aufgefressen von der blasigen Hitze der weißen Erde. Und er war bereit, alles zu riskieren, nur um endlich diesem Wanderleben zu entkommen, das ihn seit Jahren mit seiner Ruhelosigkeit quälte. Jetzt hörte er das dünne Geläut einer Kirchenglocke, die die Gläubigen zur Nachtmette rief. Er griff in seine Hosentasche, holte einen eiförmigen Gegenstand hervor und klappte ihn auf. Die Zeiger standen auf Elf. Das Wunderwerk funktionierte also immer noch einwandfrei. Wie ein kleiner Käfig für den Vogel Zeit kam es ihm vor. Er hütete die Reiseuhr mit besonderer Sorgfalt, seit er sie in Nürnberg als Bezahlung für ein Gemälde erhalten hatte.
Wenig später stieg er vorsichtig ein paar glitschige Stufen die Molenmauer hinab zu einem kleinen Podest, das nur eine Handbreit übers Wasser ragte und von wo aus niedrige Boote beladen werden konnten. Er griff in seine Manteltasche, holte die Katze heraus und setzte sie neben sich. Die Augen des Tieres leuchteten im Mondlicht wie Chrysolith. Beide starrten sie in das dunkle, übelriechende Wasser, auf dem Blasen trieben. Sterne spiegelten sich darin, in kleinen Kreisen tanzend. Über der Reling eines Schiffes, das in der Nähe an der Mole vertäut war, sah er gegen den schwach leuchtenden Westhimmel die Silhouetten der Wächter. Er hörte ihre Stimmen, ihr Gelächter. Sie waren betrunken und immer noch dabei, weiter zu trinken. Das Wasser vor ihm war schwarz wie Pech, und eine Weile meinte er, einen Blick in Dantes Hölle zu werfen. Denn in all der Finsternis trieben seltsam schimmernde Geisterwesen vorbei, die ihn anzublicken schienen aus trüben, geschwollenen Augen.
Er musste lächeln. Niemand ahnte etwas von seinen verrückten Visionen. Nein, er war kein Maler wie alle anderen. Dafür nahm er einfach zu viel wahr, selbst hier in dieser wässrigen Finsternis vor ihm. Er war ein mittelmäßiger Künstler, und das lag daran, dass er die Dinge zu deutlich sah. Ein guter Maler musste über eine gewisse Blindheit verfügen, musste fähig sein, all das zu übersehen, was die Eindringlichkeit seines Werkes zu stören vermochte.
Er setzte sich und lehnte sich gegen die feuchte Mauer. Wie lange er so verharrt hatte, wusste er nicht. Nur dass sich die Katze an ihn schmiegte, spürte er, und dass ihr kleiner Körper ein wenig Wärme abgab, die jetzt in seine Handfläche drang. Er musste eingeschlafen sein, denn das Wasser wurde klarer, heller und schließlich grün wie ein kostbarer Smaragd. Der Morgen graute. Er stand auf, gähnte und reckte die Arme. Es war an der Zeit, sich eine billige Herberge zu suchen.
Der Mann war arm. Alles, was er besaß, hatte er in einem groben Leinensack verwahrt, den er auf der Schulter trug. Über dem Portal, durch das er die Innenstadt erneut betrat, hockte ein weißer Gott aus Marmor. Ruß und Schmutz hatten seinem ebenmäßigen Gesicht eine schwarze Maske übergestreift. Sie verbarg sein spöttisches Lächeln, das den Fußgängern galt, die vom Hafen kamen, mutig durch das Tor schritten und sich in dieses verwirrende Labyrinth enger Gassen begaben, die tiefen Messerschnitten glichen, Wunden, die sich zum Himmel hin zu schließen begannen. So eng waren sie, dass sich die Bewohner von einem Fenster zum gegenüberliegenden die Hand reichen oder bei einem Streit mühelos die Degenklingen kreuzen konnten. Manche dieser Sträßchen schienen über Nacht ihren Verlauf zu ändern. Jedenfalls konnte dies einem Fremden wie ihm so erscheinen. Die gestern noch durchschrittenen Wege waren verschwunden, oder sie krümmten sich anders, hatten ihre Namen geändert, mit der Folge, dass man leicht in die Irre ging. Wieder blieb er stehen. Er hatte sich verlaufen, wusste nicht mehr, wo er sich befand.
Jan Massys war Flame. Er war ein geachtetes Mitglied der Malergilde von Antwerpen gewesen, der berühmten Lukasgilde. Doch das war lange her. Man hatte ihn aus der Heimat verstoßen, davongejagt wie einen Verbrecher. Die Heilige Inquisition hatte sein ruhiges Leben an der Seite seiner Frau und seiner vier Kinder zerstört. Nie würde er die Tage und Nächte der Verhöre im Steen vergessen, jenem Teil der Antwerpener Burg, in dem die Inquisition residierte. Die dicken Mauern hatten nach dem Angstschweiß gestunken, den sie wie Schwämme von unzähligen Opfern aufgesogen hatten. Die meisten Fragen, die man ihm stellte, in zuvorkommendem Tonfall übrigens, hatten nach den Antworten geklungen, die man von ihm erwartete. Er hatte sein Heil in der Wahrheit gesucht, nichts abgeleugnet, weder seine Sympathien für die neue Frömmigkeit noch die heimlichen Treffen mit Gleichgesinnten. Vielleicht war dies ein Fehler gewesen, vielleicht hätte er leugnen sollen, andere denunzieren, die ihn denunziert hatten.
Der größte Fehler aber war die Tatsache gewesen, dass er einen Mann in seinem Atelier empfangen hatte, der sich von ihm porträtieren lassen wollte. Kein gewöhnlicher Mann, sondern ein berüchtigter Ketzer. Eligius Pruystinck, genannt Loy de Schaliedekker, Gründer und Haupt der Sekte der Loiisten. Jan Massys war kein Loiist. Das hatte er immer wieder beteuert, obwohl er zugeben musste, dass ihn die Thesen Pruystincks faszinierten. Er predigte die Zweiteilung des Menschen in eine innere und eine äußere Person. Nur die innere war Gott verantwortlich. Welch ein kühner Gedanke! Denn dies war nichts anderes als ein Freibrief für die Vergehen der äußeren Existenz. Alles schien plötzlich erlaubt, alle Ausschweifungen des Fleisches. Gewiss, es gab eine geistige und eine fleischliche Seite der Existenz. Aber er, Massys, strebte die Einheit dieser beiden Seiten an. Er wusste damals übrigens: Loy de Schaliedekker zu malen war gefährlich. Ein gutes Bild warb für die Ideen des Kopfes, der dargestellt war. Pruystinck hatte ein interessantes Gesicht. Es in Öl zu verewigen reizte Massys. Doch in den Augen der Kirche war es bereits Ketzerei, einen Ketzer zu malen. Er hatte den Auftrag abgelehnt, gegen sein Malergewissen, aber mit dem guten Grund, sich und seine Familie nicht in Schwierigkeiten bringen zu wollen. Doch da war es bereits zu spät gewesen. Sie hatten Jan Massys dennoch geholt. Jemand musste ihn denunziert haben.
Seine Familie war an jenem Tag auf dem Land gewesen. Vermutlich hatte man diesen Augenblick absichtlich gewählt. Mitten in der Nacht hatten ihn zwei fremde Männer geweckt. Sie hatten sich stumm über ihn hergemacht, ihn mit rohen Griffen auf den Rücken gedreht, ihm die Hände gebunden, eine Kapuze über den Kopf gestreift und ihn die Treppe hinuntergezerrt. Massys hatte alles willenlos mit sich geschehen lassen. Er wusste, dass man ihm bei der geringsten Gegenwehr einen Knebel in den Rachen stopfen und den Kopf in eine eiserne Gabel stecken würde, um ihn bewegungsunfähig zu machen.
Die Männer sprachen Spanisch. Nichts Ungewöhnliches, seitdem die Niederlande zur spanischen Krone gehörten. Sie schoben ihn in eine Kutsche mit schwarzen Vorhängen, und dann ging es durch die Stadt. Am Steen angelangt, dem mächtigen steinernen Gebäude direkt an der Schelde, führte man Massys durch lange Gänge und schob ihn schließlich in eine kleine Zelle, nicht mehr als zehn Fuß lang und sechs Fuß breit. Die Tür war so niedrig, dass man nur auf allen Vieren hindurchgelangen konnte. Die...
Details
Erscheinungsjahr: | 2006 |
---|---|
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 416 S. |
ISBN-13: | 9783442734887 |
ISBN-10: | 3442734886 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Boëtius, Henning |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 186 x 117 x 27 mm |
Von/Mit: | Henning Boëtius |
Erscheinungsdatum: | 06.06.2006 |
Gewicht: | 0,33 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2006 |
---|---|
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 416 S. |
ISBN-13: | 9783442734887 |
ISBN-10: | 3442734886 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Boëtius, Henning |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 186 x 117 x 27 mm |
Von/Mit: | Henning Boëtius |
Erscheinungsdatum: | 06.06.2006 |
Gewicht: | 0,33 kg |
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