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Beschreibung
1. Vom Märchen- zum Merkelgift: Thematische HinführungDie Ökologie ist nicht reine Naturwissenschaft. Sie steht für einen ganzheitlichen Blick, der kultur- oder zivilisationskritische Aspekte umfasst. Ökologie verbindet stoffliche mit politischen, biochemische mit geistigen Elementen. Ökologische Schriften formulieren von Beginn an auch Kulturkritik im Lichte des beispiellosen Menschheitsprojekts der Industrialisierung. Damit ist die Ökologie der natürliche Gegenstand der Kulturwissenschaft. Der ökologische Blick verbindet vielfältige Perspektiven miteinander. Das sprachliche Mittel der Verbindung ist die Metapher. Die Ökologiegeschichte ist reich an Metaphern, die auch Gegenstand dieses Buches sind: Ackergift und Mutter Erde, Waldsterben und chemischer Tod, Giftwellen und Krieg gegen die Natur, der Mensch als Krebsgeschwür, der Stumme Frühling, die ökologische Zeitenwende, die Erde Gaia, der Stoffwechsel von Mensch und Umwelt, das Naturgleichgewicht, Klimagift. In den Zwischenräumen der gegenwärtigen ökologischen Diskurse, die etwa anhand der Schlagworte Postwachstum, Kapitalismus, Globalisierung, Transhumanismus, Anthropozän oder "global warming" geführt werden, vor allem aber im Diskurs über die industrialisierte Landwirtschaft und den chemisierten Ackerbau, hat sich die Metaphorik der Vergiftung am Leben erhalten. Die folgenden Seiten führen viele Beispiele auf. Die Giftmetaphorik ist besonders geschichts- und facettenreich. Ihre Verwendung unterliegt kulturellem Wandel. Diesen aufzuzeigen, zu erhellen und zu begründen, ist die Absicht dieser [...] den vier vorangestellten Textpassagen, die die semantische und zeitspezifische Vielfalt der Giftsemantik andeuten, wird in jedem Fall eine ganz andere Sache beschrieben: Im Märchen vergiftet die eitle und gekränkte Stiefmutter das Schneewittchen, ein unschuldiges Kind, weil es schöner ist als sie selbst; das Märchen handelt von Eifersucht und ungerechter Verfolgung eines gutherzigen, naiven und vor allem schönen Wesens. Gemäß der völkischen, antisemitischen Prosa vergiftet eine Religionsgemeinschaft, die jüdische, die als ein "Volk" beschrieben wird und der nur die bösesten Absichten unterstellt werden, das eigene, als rein und edel begriffene "Volk". Der märchenhaft konstruierte Vergiftungsvorwurf ("planmäßig wurde das Deutsche Volk [...] vergiftet" ) fungiert wenige Jahre später bekanntlich als Legitimation dafür, selbst hemmungslos mit Gift(gas) zu morden und gewissermaßen zurück zu vergiften. Im Autorenjournalismus der 1960er Jahre ist es das giftschuldige Volk selbst, das nun nicht mehr als rein gedacht werden kann. Vielmehr sind es die industrialisierten Nationen überhaupt, die zum Vergifter werden. Sie vergiften nun wortwörtlich alles - die Natur, die Umwelt, mithin sich selbst: "Ganz legal [...] sind wir eifrig dabei, unsere Umwelt und uns selbst zu vergiften." Dies allerdings tun sie - ein entscheidender Unterschied zu den Giftnarrationen des Märchens und der antisemitischen Propaganda - nun, in mancher Hinsicht, wirklich. Die folgenden Kapitel blicken zurück auf die Geschichte und Gegenwart ökotoxikologischer Katastrophen, aber auch auf im Rückblick überdramatisierte [...] dem Hiphop-Lied der 2000er Jahre ist das All-Vergiftungswerk gewissermaßen vollendet: "Alles ist vergiftet". Diese Klage allerdings wird nun leidenschaftslos vorgetragen, lakonisch referiert, aber es ermangelt spezifischer Gedanken bezüglich der Frage, welcher Art das Gift genau ist und wer es gestreut, gespritzt, verteilt haben mag, wem es schadet; es ist einfach so, und man bewegt sich in dieser toxischen Welt mit einer gewissen Lethargie. Der Song geht so, als gebe es keine Schuldigen und keinen Ausweg aus der Konsumsucht, für die verschiedene Symbole stehen: RTL2, Buffalos, Tofu - zum oberflächlichen Konsumismus, dem der kulturwissenschaftliche Diskurs über die Popularkultur identitätsstiftende Funktionen in Gestalt einer "Fiktionalisierung des Selbstverhältnisses" oder der
1. Vom Märchen- zum Merkelgift: Thematische HinführungDie Ökologie ist nicht reine Naturwissenschaft. Sie steht für einen ganzheitlichen Blick, der kultur- oder zivilisationskritische Aspekte umfasst. Ökologie verbindet stoffliche mit politischen, biochemische mit geistigen Elementen. Ökologische Schriften formulieren von Beginn an auch Kulturkritik im Lichte des beispiellosen Menschheitsprojekts der Industrialisierung. Damit ist die Ökologie der natürliche Gegenstand der Kulturwissenschaft. Der ökologische Blick verbindet vielfältige Perspektiven miteinander. Das sprachliche Mittel der Verbindung ist die Metapher. Die Ökologiegeschichte ist reich an Metaphern, die auch Gegenstand dieses Buches sind: Ackergift und Mutter Erde, Waldsterben und chemischer Tod, Giftwellen und Krieg gegen die Natur, der Mensch als Krebsgeschwür, der Stumme Frühling, die ökologische Zeitenwende, die Erde Gaia, der Stoffwechsel von Mensch und Umwelt, das Naturgleichgewicht, Klimagift. In den Zwischenräumen der gegenwärtigen ökologischen Diskurse, die etwa anhand der Schlagworte Postwachstum, Kapitalismus, Globalisierung, Transhumanismus, Anthropozän oder "global warming" geführt werden, vor allem aber im Diskurs über die industrialisierte Landwirtschaft und den chemisierten Ackerbau, hat sich die Metaphorik der Vergiftung am Leben erhalten. Die folgenden Seiten führen viele Beispiele auf. Die Giftmetaphorik ist besonders geschichts- und facettenreich. Ihre Verwendung unterliegt kulturellem Wandel. Diesen aufzuzeigen, zu erhellen und zu begründen, ist die Absicht dieser [...] den vier vorangestellten Textpassagen, die die semantische und zeitspezifische Vielfalt der Giftsemantik andeuten, wird in jedem Fall eine ganz andere Sache beschrieben: Im Märchen vergiftet die eitle und gekränkte Stiefmutter das Schneewittchen, ein unschuldiges Kind, weil es schöner ist als sie selbst; das Märchen handelt von Eifersucht und ungerechter Verfolgung eines gutherzigen, naiven und vor allem schönen Wesens. Gemäß der völkischen, antisemitischen Prosa vergiftet eine Religionsgemeinschaft, die jüdische, die als ein "Volk" beschrieben wird und der nur die bösesten Absichten unterstellt werden, das eigene, als rein und edel begriffene "Volk". Der märchenhaft konstruierte Vergiftungsvorwurf ("planmäßig wurde das Deutsche Volk [...] vergiftet" ) fungiert wenige Jahre später bekanntlich als Legitimation dafür, selbst hemmungslos mit Gift(gas) zu morden und gewissermaßen zurück zu vergiften. Im Autorenjournalismus der 1960er Jahre ist es das giftschuldige Volk selbst, das nun nicht mehr als rein gedacht werden kann. Vielmehr sind es die industrialisierten Nationen überhaupt, die zum Vergifter werden. Sie vergiften nun wortwörtlich alles - die Natur, die Umwelt, mithin sich selbst: "Ganz legal [...] sind wir eifrig dabei, unsere Umwelt und uns selbst zu vergiften." Dies allerdings tun sie - ein entscheidender Unterschied zu den Giftnarrationen des Märchens und der antisemitischen Propaganda - nun, in mancher Hinsicht, wirklich. Die folgenden Kapitel blicken zurück auf die Geschichte und Gegenwart ökotoxikologischer Katastrophen, aber auch auf im Rückblick überdramatisierte [...] dem Hiphop-Lied der 2000er Jahre ist das All-Vergiftungswerk gewissermaßen vollendet: "Alles ist vergiftet". Diese Klage allerdings wird nun leidenschaftslos vorgetragen, lakonisch referiert, aber es ermangelt spezifischer Gedanken bezüglich der Frage, welcher Art das Gift genau ist und wer es gestreut, gespritzt, verteilt haben mag, wem es schadet; es ist einfach so, und man bewegt sich in dieser toxischen Welt mit einer gewissen Lethargie. Der Song geht so, als gebe es keine Schuldigen und keinen Ausweg aus der Konsumsucht, für die verschiedene Symbole stehen: RTL2, Buffalos, Tofu - zum oberflächlichen Konsumismus, dem der kulturwissenschaftliche Diskurs über die Popularkultur identitätsstiftende Funktionen in Gestalt einer "Fiktionalisierung des Selbstverhältnisses" oder der
Details
Erscheinungsjahr: | 2018 |
---|---|
Genre: | Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 512 S. |
ISBN-13: | 9783593508818 |
ISBN-10: | 3593508818 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Grossarth, Jan |
Auflage: | 1/2018 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 216 x 142 x 32 mm |
Von/Mit: | Jan Grossarth |
Erscheinungsdatum: | 07.06.2018 |
Gewicht: | 0,625 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2018 |
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Genre: | Recht, Sozialwissenschaften, Wirtschaft |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 512 S. |
ISBN-13: | 9783593508818 |
ISBN-10: | 3593508818 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Grossarth, Jan |
Auflage: | 1/2018 |
campus verlag: | Campus Verlag |
Maße: | 216 x 142 x 32 mm |
Von/Mit: | Jan Grossarth |
Erscheinungsdatum: | 07.06.2018 |
Gewicht: | 0,625 kg |
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