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Ein wenig betrübt, Ihre Marion
Ein Briefwechsel aus fünf Jahrzehnten
Buch von Gerd/Dönhoff, Marion Gräfin Bucerius
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Krach um die Zeit

In den fünfziger Jahren befindet sich die Hamburger Wochenzeitung in einer prekären Lage. Die Eigentümer des Blattes sind heillos zerstritten. Die Auflage der Zeitung sinkt, von über 100000 nach der Währungsreform auf weniger als die Hälfte. Mitgesellschafter und Chefredakteur Richard Tüngel steuert zudem einen Rechtskurs, der sich von der liberal-konservativen Haltung der Anfangsjahre mehr und mehr entfernt. Marion Dönhoff, seit 1952 verantwortlich für den politischen Teil, will dies nicht länger mittragen.
Ihre Schmerzgrenze ist erreicht, als am 29. Juli 1954, während ihres Sommerurlaubs in Irland, den sie bei ihrem Bruder Dietrich verbringt, ein groß aufgemachter Artikel von Carl Schmitt erscheint, »Im Vorraum der Macht«. Sie schreibt einen Brief an Tüngel, nachdem sie in der Hamburger Staatsbibliothek belastende Zitate des prominenten Staatsrechtlers aus dem Dritten Reich zusammengetragen hat: »Soll man ehemalige führende Nazis (oder sagen wir es neutraler: im damaligen >Geistes<-leben oder dem damaligen Apparat verantwortliche nationalsozialistische Persönlichkeiten) in der ZEIT schreiben lassen oder nicht? Ich verneine diese Frage. Sie dagegen sagen: ja, man soll es ... Wer [aber] den Geist des Nationalsozialismus gepredigt hat oder die Sprachregelung der Presse gelenkt hat, soll für alle Zeiten von der Mitarbeit an einer politischen Zeitung wie der unseren ausgeschlossen werden [...] ich weigere mich, zuzugeben, dass wir Deutschland einen Dienst erweisen, wenn wir den Verrätern am Geist und Nihilisten mit Bügelfalten wieder die Möglichkeit geben, politische Betrachtungen anzustellen.«
Noch im August verlässt Marion Dönhoff die ZEIT. Sie reist durch die USA, worüber sie in der »Welt« schreibt, und schlüpft für ein paar Monate beim »Observer« unter, der Londoner Sonntagszeitung ihres Freundes David Astor. Gerd Bucerius schreibt an seine Frau Ebelin in die Schweiz: »Hier ist allerhand los. Marion D. geht weg, ich bin sehr deprimiert, fürchte, das ist das Ende der ZEIT.« Im September bekommt Marion Dönhoff einen Brief von Hans Zehrer, dem Chefredakteur der »Welt«: »Ich würde es begrüßen, wenn Sie leitend in die politische Redaktion der >Welt< eintreten würden. Ihr Gehalt würde 2000 DM monatlich betragen.«
Doch Bucerius hat noch nicht aufgegeben. Die zahlreichen Briefe prominenter Zeitgenossen, besonders auch aus den USA, die ihr Bedauern über die Entwicklungen bei der ZEIT ausdrücken, haben ihn aufgescheucht. Er sucht nach einer Lösung, Marion Dönhoff wieder nach Hamburg zurückzuholen und sie mit »Jupp«, mit Josef Müller-Marein, zusammenzuspannen, der als Chef vom Dienst in der ZEIT für sauberes journalistisches Handwerk steht.

Aus London schickt Marion Dönhoff einen sieben Seiten langen handschriftlichen Brief an Bucerius. Darin beschreibt sie die Voraussetzungen, unter denen sie bereit ist, wieder in der ZEIT mitzumachen. Sie meldet ihren Anspruch auf eine Führungsposition an und entwirft ihr Idealbild einer Wochenzeitung, dem sie bis zu ihrem Tod treu geblieben ist.

London, November 1954
(handschriftlich)

Lieber Herr Bucerius,
nun geht mein hiesiger Aufenthalt seinem Ende entgegen, und da wollte ich Ihnen doch noch einmal ein bißchen berichten. Ich finde es natürlich großartig hier, und in mancher Hinsicht ist es auch sehr lehrreich. Bei meiner derzeitigen Lebensform totaler Pflicht- und Verantwortungslosigkeit werde ich nur durch Anlehnung an ein Büro vor der kompletten Integration in die Anarchie bewahrt. So ein Büro, wenn man es nicht zum Arbeiten, sondern zum Schwätzen und Telefonieren verwendet, ist eigentlich eine ideale Erfindung. Es ist eine Rechtfertigung in sich selbst und enthebt einen darum aller moralischen Skrupel, denen die einzig Müßige in einer Welt ruheloser Geschäftigkeit sonst zweifellos ausgesetzt wäre.
Ich habe die East- und die Südostasien-Debatten im Parlament gehört, eingehend Chatham House studiert (die seit zwanzig Jahren ausschließlich Dokumente zur Geschichte des [...]. gesammelt hat). Ich habe mir die unbeschreiblich langweiligen Pressekonferenzen des F.O. [Foreign Office] angehört, gehe hin und wieder schöne Bilder ansehen, habe heute mit Sir Robert Moosely gefrühstückt, werde morgen mit General Templer dinieren. Gestern habe ich als einziger Christ (wenn man von einem total betrunkenen Iren absieht) bei Rix Löwenthal einen ungewöhnlich lustigen Abend verbracht. Er begann mit schwindelnder Geistesakrobatik in der dünnen Luft intellektueller Gespräche und endete mit lauten Gesängen englischer Volksweisen und jüdischer Hymnen. Sie sehen, ich führe ein sehr abwechslungsreiches Leben.
Der Observer ist deshalb so interessant, weil am sechsten Tag (nachdem die Woche sehr ähnlich vergangen ist wie bei uns) plötzlich die ganze Hektik eines Tageszeitungsbetriebs einsetzt. Zwischen 1 und 5 Uhr werden 14 Seiten umbrochen, laufen ständig 4 Ticker von 4 verschd. Nachrichtenagenturen, nimmt pausenlos ein Stenograph am Telefon die letzten Berichte der Korrespondenten auf. Sechs sub-editors (von der Times für diesen Tag ausgeborgt) sitzen um einen großen Tisch und redigieren Nachrichten und Berichte. Die Zeitung ist seit dem Krieg um 1/4 Millionen in der Auflage gestiegen und ist weiter ständig am Steigen. Zur Zeit werden 530000 Exemplare verkauft. Zwar hat auch die Sunday Times zugenommen, aber längst nicht mit dieser Rapidität. Ich versuche immer wieder zu ergründen, welchen Umständen dieser Erfolg wohl zu danken ist. Zu meiner allergrößten Befriedigung glaube ich dann jedes Mal feststellen zu müssen, daß genau die Gesichtspunkte entscheidend dabei mitwirken, für die ich bei uns seit Jahren vergeblich gekämpft habe:
1) Es wird viel Außenpolitik gemacht unter dem Motto: In einer Wochenzeitung wollen die Leute große Zusammenhänge erläutert bekommen und Dinge lesen, die sie in der Tagespresse nicht finden. Wobei zu sagen ist, daß die Engländer sich von Natur aus keineswegs mehr für Außenpolitik interessieren als das dtsch. Publikum. Zumal sie oft auch gar nicht die bildungsmäßigen Voraussetzungen dafür haben. Ich glaube aber, den meisten Menschen ist erst nach dem 2. Krieg die Interdependenz der Staaten und Nationen und politischen Bewegungen klar geworden. Und darum ist plötzlich ihr Interesse für den Nachbarn, die Großmächte, das ferne Asien etc. erwacht.
2) Prinzip: auf keinen Fall einer parteipol. Einseitigkeit verfallen. Im Observer nehmen im bunten Durcheinander Labour und Konservative zu den laufenden Problemen Stellung - wobei zu sagen ist, daß im Durchschnitt ein engl. Minister oder MP [Member of Parliament, Abgeordneter] besser und amüsanter schreibt als ein deutscher. Ich füge den Bericht eines Labour-MP über seine Rußlandreise bei, der ganz interessant ist, und auch eines der letzten Portraits - so muß m.E. ein Portrait sein. Wenn ich an Adenauer von Tgl. [Tüngel] und Mendès-Fr[ance] von Bourdin denke, könnte ich weinen vor Schmerz.
3) Ist die Einstellung zum Leser eine ganz andere als bei uns. Der Leser ist nicht ein Idiot, der es im Grunde gar nicht wert ist, von so auserwählten Hohepriestern wie den Redakteuren der ZEIT angesprochen zu werden, sondern er ist ein normaler Mensch mit Zweifeln, einer gewissen Wißbegierde und einem dringenden Bedürfnis zu lachen oder wenigstens sich nicht zu langweilen. Und die Leute, die man angreift, sind nie dumm, erbärmlich und verächtlich, sondern einfach anders, aber meist ebenbürtig. Es kommt letzten Endes darauf hinaus, daß man sich in einer Zeitung nicht anders benimmt als den Leuten gegenüber, mit denen man zusammen am Tisch sitzt.
Wenn man zurückdenkt, ist bei uns halt alles sehr unglücklich gelaufen. Die überzeugenden und amüsanten Schreiber Friedlaender und Jacobi haben wir eingebüßt, und geblieben ist ausgerechnet Ernst Krüger und drei magenkranke, krätzebefallene, immer giftiger werdende alte Männer.
Schon von Paris aus gesehen und von hier nun noch viel mehr erscheint mir der politische Teil der ZEIT recht provinziell und sehr ichbezogen: in der Mitte ist Deutschland, drum herum ein bißchen Gemüse und an den Enden rechts und links die bd. Kraftblöcke USA und Rußland, die fasziniert auf D[eutschland] starren. Ich muß Albert Hahn recht geben, der mir in Paris sagte, es ist ein Unglück, daß Ihr so viele Abonnenten im Ausland habt. Er läse die ZEIT, die ihm offenbar unentgeltlich zugestellt wird, nur noch, wenn er sich ärgern wolle. Und immer wieder werde ich überall vorwurfsvoll auf die John-Artikel angesprochen. Es ist erstaunlich, wie seismographisch der Leser auf den falschen Ton reagiert. Damals, als der anfing, vor 1 1/2 Jahren, haben wir unsere getreuesten Freunde verloren.
Ich habe natürlich viel über alles nachgedacht, über das, was war und was sein könnte, und ich glaube, wenn Sie noch an Ihrem alten Plan festhalten, dann muß man sich darüber klar sein, daß man wirklich ganz neu und mit einer sichtbaren Zäsur neu anfangen muß. Es ist doch schon sehr viel verschüttet, viel good will vertan, viel Anhänglichkeit leichtfertig verspielt. Es geht jetzt nicht, wie Jupp einmal meinte, »den Uexküll brauchen wir nicht, da können Hühnerfeld und Lewalter gelegentlich helfen« - es muß mit einem ganz neuen Elan, mit neuen Namen, mit neuem Geist angefangen werden, sonst läßt man es lieber so, wie es jetzt ist, dann spart man sich wenigstens den Krach mit Tüngel.
Ja, und nun muß ich Ihnen noch etwas sagen, was Sie und Jupp hoffentlich recht verstehen werden oder wenigstens nicht falsch. Ich habe, wie gesagt, viel über alles nachgedacht, und es ist natürlich ein wirklich schwerer Entschluß, noch einmal wieder in einen Lebensabschnitt zurückzusteigen, den man bereits hinter sich gebracht hatte, und eine Sache anzufassen, die die meisten Leute, auf die es ankommt, mittlerweile für uninteressant und passé halten und noch dazu das alles wahrscheinlich mit unzulänglichen Kompetenzen. Mein Vertrauen zu Ihnen und zu Jupp ist groß, ich bin bisher...
Krach um die Zeit

In den fünfziger Jahren befindet sich die Hamburger Wochenzeitung in einer prekären Lage. Die Eigentümer des Blattes sind heillos zerstritten. Die Auflage der Zeitung sinkt, von über 100000 nach der Währungsreform auf weniger als die Hälfte. Mitgesellschafter und Chefredakteur Richard Tüngel steuert zudem einen Rechtskurs, der sich von der liberal-konservativen Haltung der Anfangsjahre mehr und mehr entfernt. Marion Dönhoff, seit 1952 verantwortlich für den politischen Teil, will dies nicht länger mittragen.
Ihre Schmerzgrenze ist erreicht, als am 29. Juli 1954, während ihres Sommerurlaubs in Irland, den sie bei ihrem Bruder Dietrich verbringt, ein groß aufgemachter Artikel von Carl Schmitt erscheint, »Im Vorraum der Macht«. Sie schreibt einen Brief an Tüngel, nachdem sie in der Hamburger Staatsbibliothek belastende Zitate des prominenten Staatsrechtlers aus dem Dritten Reich zusammengetragen hat: »Soll man ehemalige führende Nazis (oder sagen wir es neutraler: im damaligen >Geistes<-leben oder dem damaligen Apparat verantwortliche nationalsozialistische Persönlichkeiten) in der ZEIT schreiben lassen oder nicht? Ich verneine diese Frage. Sie dagegen sagen: ja, man soll es ... Wer [aber] den Geist des Nationalsozialismus gepredigt hat oder die Sprachregelung der Presse gelenkt hat, soll für alle Zeiten von der Mitarbeit an einer politischen Zeitung wie der unseren ausgeschlossen werden [...] ich weigere mich, zuzugeben, dass wir Deutschland einen Dienst erweisen, wenn wir den Verrätern am Geist und Nihilisten mit Bügelfalten wieder die Möglichkeit geben, politische Betrachtungen anzustellen.«
Noch im August verlässt Marion Dönhoff die ZEIT. Sie reist durch die USA, worüber sie in der »Welt« schreibt, und schlüpft für ein paar Monate beim »Observer« unter, der Londoner Sonntagszeitung ihres Freundes David Astor. Gerd Bucerius schreibt an seine Frau Ebelin in die Schweiz: »Hier ist allerhand los. Marion D. geht weg, ich bin sehr deprimiert, fürchte, das ist das Ende der ZEIT.« Im September bekommt Marion Dönhoff einen Brief von Hans Zehrer, dem Chefredakteur der »Welt«: »Ich würde es begrüßen, wenn Sie leitend in die politische Redaktion der >Welt< eintreten würden. Ihr Gehalt würde 2000 DM monatlich betragen.«
Doch Bucerius hat noch nicht aufgegeben. Die zahlreichen Briefe prominenter Zeitgenossen, besonders auch aus den USA, die ihr Bedauern über die Entwicklungen bei der ZEIT ausdrücken, haben ihn aufgescheucht. Er sucht nach einer Lösung, Marion Dönhoff wieder nach Hamburg zurückzuholen und sie mit »Jupp«, mit Josef Müller-Marein, zusammenzuspannen, der als Chef vom Dienst in der ZEIT für sauberes journalistisches Handwerk steht.

Aus London schickt Marion Dönhoff einen sieben Seiten langen handschriftlichen Brief an Bucerius. Darin beschreibt sie die Voraussetzungen, unter denen sie bereit ist, wieder in der ZEIT mitzumachen. Sie meldet ihren Anspruch auf eine Führungsposition an und entwirft ihr Idealbild einer Wochenzeitung, dem sie bis zu ihrem Tod treu geblieben ist.

London, November 1954
(handschriftlich)

Lieber Herr Bucerius,
nun geht mein hiesiger Aufenthalt seinem Ende entgegen, und da wollte ich Ihnen doch noch einmal ein bißchen berichten. Ich finde es natürlich großartig hier, und in mancher Hinsicht ist es auch sehr lehrreich. Bei meiner derzeitigen Lebensform totaler Pflicht- und Verantwortungslosigkeit werde ich nur durch Anlehnung an ein Büro vor der kompletten Integration in die Anarchie bewahrt. So ein Büro, wenn man es nicht zum Arbeiten, sondern zum Schwätzen und Telefonieren verwendet, ist eigentlich eine ideale Erfindung. Es ist eine Rechtfertigung in sich selbst und enthebt einen darum aller moralischen Skrupel, denen die einzig Müßige in einer Welt ruheloser Geschäftigkeit sonst zweifellos ausgesetzt wäre.
Ich habe die East- und die Südostasien-Debatten im Parlament gehört, eingehend Chatham House studiert (die seit zwanzig Jahren ausschließlich Dokumente zur Geschichte des [...]. gesammelt hat). Ich habe mir die unbeschreiblich langweiligen Pressekonferenzen des F.O. [Foreign Office] angehört, gehe hin und wieder schöne Bilder ansehen, habe heute mit Sir Robert Moosely gefrühstückt, werde morgen mit General Templer dinieren. Gestern habe ich als einziger Christ (wenn man von einem total betrunkenen Iren absieht) bei Rix Löwenthal einen ungewöhnlich lustigen Abend verbracht. Er begann mit schwindelnder Geistesakrobatik in der dünnen Luft intellektueller Gespräche und endete mit lauten Gesängen englischer Volksweisen und jüdischer Hymnen. Sie sehen, ich führe ein sehr abwechslungsreiches Leben.
Der Observer ist deshalb so interessant, weil am sechsten Tag (nachdem die Woche sehr ähnlich vergangen ist wie bei uns) plötzlich die ganze Hektik eines Tageszeitungsbetriebs einsetzt. Zwischen 1 und 5 Uhr werden 14 Seiten umbrochen, laufen ständig 4 Ticker von 4 verschd. Nachrichtenagenturen, nimmt pausenlos ein Stenograph am Telefon die letzten Berichte der Korrespondenten auf. Sechs sub-editors (von der Times für diesen Tag ausgeborgt) sitzen um einen großen Tisch und redigieren Nachrichten und Berichte. Die Zeitung ist seit dem Krieg um 1/4 Millionen in der Auflage gestiegen und ist weiter ständig am Steigen. Zur Zeit werden 530000 Exemplare verkauft. Zwar hat auch die Sunday Times zugenommen, aber längst nicht mit dieser Rapidität. Ich versuche immer wieder zu ergründen, welchen Umständen dieser Erfolg wohl zu danken ist. Zu meiner allergrößten Befriedigung glaube ich dann jedes Mal feststellen zu müssen, daß genau die Gesichtspunkte entscheidend dabei mitwirken, für die ich bei uns seit Jahren vergeblich gekämpft habe:
1) Es wird viel Außenpolitik gemacht unter dem Motto: In einer Wochenzeitung wollen die Leute große Zusammenhänge erläutert bekommen und Dinge lesen, die sie in der Tagespresse nicht finden. Wobei zu sagen ist, daß die Engländer sich von Natur aus keineswegs mehr für Außenpolitik interessieren als das dtsch. Publikum. Zumal sie oft auch gar nicht die bildungsmäßigen Voraussetzungen dafür haben. Ich glaube aber, den meisten Menschen ist erst nach dem 2. Krieg die Interdependenz der Staaten und Nationen und politischen Bewegungen klar geworden. Und darum ist plötzlich ihr Interesse für den Nachbarn, die Großmächte, das ferne Asien etc. erwacht.
2) Prinzip: auf keinen Fall einer parteipol. Einseitigkeit verfallen. Im Observer nehmen im bunten Durcheinander Labour und Konservative zu den laufenden Problemen Stellung - wobei zu sagen ist, daß im Durchschnitt ein engl. Minister oder MP [Member of Parliament, Abgeordneter] besser und amüsanter schreibt als ein deutscher. Ich füge den Bericht eines Labour-MP über seine Rußlandreise bei, der ganz interessant ist, und auch eines der letzten Portraits - so muß m.E. ein Portrait sein. Wenn ich an Adenauer von Tgl. [Tüngel] und Mendès-Fr[ance] von Bourdin denke, könnte ich weinen vor Schmerz.
3) Ist die Einstellung zum Leser eine ganz andere als bei uns. Der Leser ist nicht ein Idiot, der es im Grunde gar nicht wert ist, von so auserwählten Hohepriestern wie den Redakteuren der ZEIT angesprochen zu werden, sondern er ist ein normaler Mensch mit Zweifeln, einer gewissen Wißbegierde und einem dringenden Bedürfnis zu lachen oder wenigstens sich nicht zu langweilen. Und die Leute, die man angreift, sind nie dumm, erbärmlich und verächtlich, sondern einfach anders, aber meist ebenbürtig. Es kommt letzten Endes darauf hinaus, daß man sich in einer Zeitung nicht anders benimmt als den Leuten gegenüber, mit denen man zusammen am Tisch sitzt.
Wenn man zurückdenkt, ist bei uns halt alles sehr unglücklich gelaufen. Die überzeugenden und amüsanten Schreiber Friedlaender und Jacobi haben wir eingebüßt, und geblieben ist ausgerechnet Ernst Krüger und drei magenkranke, krätzebefallene, immer giftiger werdende alte Männer.
Schon von Paris aus gesehen und von hier nun noch viel mehr erscheint mir der politische Teil der ZEIT recht provinziell und sehr ichbezogen: in der Mitte ist Deutschland, drum herum ein bißchen Gemüse und an den Enden rechts und links die bd. Kraftblöcke USA und Rußland, die fasziniert auf D[eutschland] starren. Ich muß Albert Hahn recht geben, der mir in Paris sagte, es ist ein Unglück, daß Ihr so viele Abonnenten im Ausland habt. Er läse die ZEIT, die ihm offenbar unentgeltlich zugestellt wird, nur noch, wenn er sich ärgern wolle. Und immer wieder werde ich überall vorwurfsvoll auf die John-Artikel angesprochen. Es ist erstaunlich, wie seismographisch der Leser auf den falschen Ton reagiert. Damals, als der anfing, vor 1 1/2 Jahren, haben wir unsere getreuesten Freunde verloren.
Ich habe natürlich viel über alles nachgedacht, über das, was war und was sein könnte, und ich glaube, wenn Sie noch an Ihrem alten Plan festhalten, dann muß man sich darüber klar sein, daß man wirklich ganz neu und mit einer sichtbaren Zäsur neu anfangen muß. Es ist doch schon sehr viel verschüttet, viel good will vertan, viel Anhänglichkeit leichtfertig verspielt. Es geht jetzt nicht, wie Jupp einmal meinte, »den Uexküll brauchen wir nicht, da können Hühnerfeld und Lewalter gelegentlich helfen« - es muß mit einem ganz neuen Elan, mit neuen Namen, mit neuem Geist angefangen werden, sonst läßt man es lieber so, wie es jetzt ist, dann spart man sich wenigstens den Krach mit Tüngel.
Ja, und nun muß ich Ihnen noch etwas sagen, was Sie und Jupp hoffentlich recht verstehen werden oder wenigstens nicht falsch. Ich habe, wie gesagt, viel über alles nachgedacht, und es ist natürlich ein wirklich schwerer Entschluß, noch einmal wieder in einen Lebensabschnitt zurückzusteigen, den man bereits hinter sich gebracht hatte, und eine Sache anzufassen, die die meisten Leute, auf die es ankommt, mittlerweile für uninteressant und passé halten und noch dazu das alles wahrscheinlich mit unzulänglichen Kompetenzen. Mein Vertrauen zu Ihnen und zu Jupp ist groß, ich bin bisher...
Details
Erscheinungsjahr: 2003
Medium: Buch
Inhalt: 304 S.
10 s/w Illustr.
mit ca. 10 s/w Abb.
ISBN-13: 9783886807987
ISBN-10: 3886807983
Sprache: Deutsch
Einband: Leinen
Autor: Bucerius, Gerd/Dönhoff, Marion Gräfin
Redaktion: Haug von Kuenheim
Theo Sommer
Herausgeber: Haug von Kuenheim/Theo Sommer
siedler, wolf jobst, verlag: Siedler, Wolf Jobst, Verlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 222 x 140 x 27 mm
Von/Mit: Gerd/Dönhoff, Marion Gräfin Bucerius
Erscheinungsdatum: 18.09.2003
Gewicht: 0,507 kg
Artikel-ID: 102544002
Details
Erscheinungsjahr: 2003
Medium: Buch
Inhalt: 304 S.
10 s/w Illustr.
mit ca. 10 s/w Abb.
ISBN-13: 9783886807987
ISBN-10: 3886807983
Sprache: Deutsch
Einband: Leinen
Autor: Bucerius, Gerd/Dönhoff, Marion Gräfin
Redaktion: Haug von Kuenheim
Theo Sommer
Herausgeber: Haug von Kuenheim/Theo Sommer
siedler, wolf jobst, verlag: Siedler, Wolf Jobst, Verlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 222 x 140 x 27 mm
Von/Mit: Gerd/Dönhoff, Marion Gräfin Bucerius
Erscheinungsdatum: 18.09.2003
Gewicht: 0,507 kg
Artikel-ID: 102544002
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