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Beschreibung
Erster Teil
Zwischen Gebeten der Traum: Arua hat mich angeschaut. Ein langer Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Ermutigung noch Abscheu. Zwei schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Dann schloß sie die Augen und drehte sich weg. Das Haar fiel offen über die Schultern. Sie hätte es verhüllen müssen. Trauer, von der ich wach geworden bin. Das falsche Gefühl. Zumindest nicht Angst. Um mich herum war es finster. Die Glut in der Feuerstelle gab kein Licht an den Raum. Ich richtete mich auf. El Choli stand scharf umrissen im Eingang der Höhle. Sein Maschinengewehr teilte Himmel und Landschaft. Draußen schien die Nacht ungewohnt hell. Mond beleuchtete die Bergrücken, harte Schatten von Vorsprüngen auf den Hängen. Unter der Decke hing kalter Rauch. Er steckte in Kleidern, Laken, füllte bitter den Mund. Achmed phantasierte. Jamal rang mit einem Alp. Die Luft war schwer von Ausdünstungen.
Ich stand auf, tastete nach dem Teppich, schlich zum Eingang. El Choli fuhr erschrocken zusammen. Wortlos ging ich an ihm vorbei. Sein Mißtrauen folgte mir. Einen Moment lang dachte ich, er würde durchdrehen, schreien, schießen. Nichts geschah. Die Sterne leuchteten grell, ihre Anordnung ließ keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka.
Sprich: Er ist Gott, der Eine. / Gott, der Undurchdringliche. / Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt / und da ist keiner, der Ihm gleicht.
Aruas Traumgesicht löste sich nicht auf. Ich wurde nicht still. Um mich herum arbeitete der Fels, Brocken stürzten ab, Kies rutschte nach.
Ich saß, ich sitze hier, versuche Kraft zu sammeln, die Gedanken zu ordnen. Sie schweifen, jagen Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch meine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot; froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe. Der Blick von der Anhöhe auf das Rheintal, Dunst über dem Wasser, Haschischrauch im Mund, die Flasche in der Hand, Grillen, laut wie ein Güterzug. Im Rock-Café: Warten auf den Mann, der einen Zopf tragen und sich »Falko« nennen wird. Noch ehe er sich vorstellt, weiß ich, welchen Geschmack Verrat hat. Aruas schlanke Gestalt vor der Pizzeria. Ich möchte sie nach ihrem Namen fragen und wage es nicht.
Samirs Wecker klingelt. Fünf Uhr. Der Tag, auf den wir hingelebt haben, beginnt mit einem häßlichen, elektrisch erzeugten Ton, seiner siebenfachen Wiederholung, gefolgt von Echos, die sich überschneiden. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir in acht Stunden beim Tempel sein. Gedämpfte Stimmen. Obwohl die nächsten Häuser weit entfernt liegen, wird nur das Nötigste gesprochen. El Choli beruhigt sich. Hinter ihm huschen Kegel von Taschenlampen über die Wände. Samir tritt neben ihn, prüft den Horizont.
Noch herrscht Nacht. In wenigen Minuten wird das Dunkel aufbrechen. El Choli flüstert ihm etwas zu, deutet in meine Richtung. Er hält es für einen Fehler, mich mitzunehmen. Einer nach dem anderen kommen die Brüder heraus, gehen zu der Sandfläche, reiben sich den Schmutz des Schlafes vom Leib. Ich wechsle einige Sätze auf deutsch mit Karim. Er erzählt von seiner Schwester. Sie kellnert in einer Studentenkneipe. Seit dem Tod des Vaters trägt er die Verantwortung für sie und wird ihr nicht gerecht.
Schon daß El Choli manchmal nicht versteht, worüber wir sprechen, erbost ihn. Samir winkt mich heran: »Vor dem Kampf ist es wichtig, Ruhe zu finden«, sagt er. »Alle Ruhe liegt in Gott«, antworte ich. Erst jetzt spüre ich die Kälte der Wüste vor Tagesanbruch. Auf meiner Haut ein Film aus trockenem Schweiß, pulverisiertem Stein.
Es beginnt zu dämmern. Hinter den Bergen jenseits des Wadis verbreitert sich ein heller Streifen: die Zeit des Morgengebets. Vielleicht wird es unser letztes sein. Wir stellen uns in einer Reihe hinter Samir auf, der Heiligen Moschee zugewandt, Seite an Seite mit Abraham, Ismael, Jesus, Mohammed, mit allen, die gläubig waren und sind, vor und nach uns.
Bei der Morgenröte! / Und bei den zehn Nächten! / Und beim Geraden und Ungeraden! / Und bei der Nacht, wenn sie vergeht! / Ist das kein Beweis für den, der Verstand hat? / Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den 'Ad verfuhr, / mit Iram, ihrer säulenreichen Stadt, / der nichts im Land glich? / Und mit den Thamuud, die den Fels aushöhlten im Tal? / Und mit Pharao samt seinen Prachtzelten? / Die allerorten frevelten / und Verderben stifteten? / Dein Herr ließ die Geißel der Strafe auf sie niederfahren...
Während meine Stirn den Boden berührt, erlischt die sichtbare Welt. Die unsichtbare wird von Bildern verhüllt: Unsere Mutters Wohnung vollgestopft mit Teddybären; geblümte Schleifen raffen die Gardinen zusammen. Hochwasser; der Pfarrer bringt die Kommunion per Boot; wo er vorbeifährt, bekreuzigen sich die Leute. Meinen Arm in den Rücken gedreht, stößt mich der Zivilfahnder in den Wagen.
»Friede und Gottes Barmherzigkeit sei mit Euch.« Ich wende mich nach rechts, nach links, stehe auf, falte den Teppich zusammen. Ein Vogel gleitet über uns hinweg dem Nil zu. Der graue Streifen Licht hat sich in Gelb verwandelt, das weiter oben die Schwärze durchdringt. Die Kante der Sonne scheint orange über den Hügeln, bringt die Wüste zum Glühen. »Pack dein Zeug, Jochen«, brüllt El Choli. »Ich heiße Abdallah!« antworte ich. »Hört auf herumzuschreien«, zischt Mohammed. Ich gehe zu meinem Platz in der Höhle, rolle die Decke auf, räume Pullover, Konserven, Bücher, das Briefbündel aus dem Rucksack, lege alles auf einen Stapel, dazu die schriftliche Verfügung. Aruas winzigen, von Lippenstift beschmierten Qur'an stecke ich in die Hosentasche.
Shukri hat den Gaskocher angezündet und Wasser aufgesetzt. Der Gestank von neun Männern, die am Vortag durch Gluthitze marschiert sind, ungewaschen eingeschlafen, stört ihn nicht. Er ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie haust in einem einzigen Raum aus Lehmziegeln. Kein eigenes Zimmer, abschließbar, mit Stereoanlage, Gitarre, justierbarem Schreibtischstuhl für eine orthopädisch korrekte Haltung beim Lernen. Ich öffne eine Dose Foul, schütte sie in den zweiten Topf, halte Shukri meinen Becher hin. Er gießt süßen Tee ein.
Die Sonne steht jetzt voll über den Bergen. Nach wie vor wird wenig gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, bereitet sich vor, auf was man sich nicht vorbereiten kann.
Die unsinnige Frage, was andernfalls gewesen wäre: Es ist nicht der Fall.
Der Tee wärmt, schärft die Aufmerksamkeit. Klarheit und Konzentration als physische Reaktionen. Außerdem: Schlafmangel, Leere im Bauch.
Es wird viele Tote geben. So Gott will. Deutsche, Amerikaner. Ich hasse sie nicht. Nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung. Jedem Menschen ist sein Ende bestimmt. Wenn er ausgelöscht wird, verblaßt kein Stern. Am Tag des Gerichts legt seine Haut Zeugnis über ihn ab. Dann wird er in Gärten geführt oder zum Abgrund. Und was läßt dich wissen, was der Abgrund ist? / Loderndes Feuer. Ich bin ein Werkzeug. Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. Vielleicht werden wir sterben. Wen kümmern ein paar Tage mehr oder weniger? Lächerlich, sich daran zu klammern.
Shukri kommt mit dem Topf. Die Bohnen schwimmen in Fett. Zunächst geht er zu Samir. Samir erwartet das nicht, im Gegenteil: Er wäre lieber der letzte. Mehr als Wissen und Erfahrung zeichnet ihn Bescheidenheit aus. Shukri besteht darauf, ihn als ersten zu bedienen. Er ist in der Furcht vor
Höhergestellten aufgewachsen, gewohnt, daß Macht Privilegien bedeutet. Ich nehme eine halbe Kelle statt zwei. Mein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt. Jamal bringt eine Tüte dünnes Fladenbrot. Wir bilden einen offenen Kreis, essen schweigend. Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. Er wird es zurücklassen. Wir haben gestritten, ob der Abstieg bewaffnet oder unbewaffnet erfolgen soll. Meine Argumente gegen Waffen haben die anderen überzeugt, bis auf El Choli. Die Niederlage ist Teil seiner Erbitterung, nicht ihre Ursache. Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyüt. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein. Durch Gottes Rechtleitung wurde meine Suche beendet. Das ist eine besondere Gnade, sagt Karim. Die ich nicht verdiene.
Der Himmel hat jetzt die bleiche Farbe des Tages. Staub verwischt die Konturen der entfernteren Bergketten. Salah wirkt angespannt. Ihm fällt der Brei vom Brot in den Napf zurück. Er greift an sein stoppeliges Kinn, fährt sich übers Haar, als wollte er Fliegen verscheuchen, die es hier nicht gibt. Samir spürt seine Nervosität, legt ihm die Hand auf den Arm. In Salahs Augen leuchtet Dankbarkeit, dann hastet sein Blick über unsere Gesichter, besorgt, daß jemand seine Angst bemerkt. »Gott ist größer«, sagt er, »Er wird uns schützen. Ich bin sicher, wir werden siegen, wie der Prophet in der Schlacht von Badr gesiegt hat.«
Er muß reden, um zu hören, was er denkt, sonst glaubt er es nicht. »So Gott...
Zwischen Gebeten der Traum: Arua hat mich angeschaut. Ein langer Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Ermutigung noch Abscheu. Zwei schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Dann schloß sie die Augen und drehte sich weg. Das Haar fiel offen über die Schultern. Sie hätte es verhüllen müssen. Trauer, von der ich wach geworden bin. Das falsche Gefühl. Zumindest nicht Angst. Um mich herum war es finster. Die Glut in der Feuerstelle gab kein Licht an den Raum. Ich richtete mich auf. El Choli stand scharf umrissen im Eingang der Höhle. Sein Maschinengewehr teilte Himmel und Landschaft. Draußen schien die Nacht ungewohnt hell. Mond beleuchtete die Bergrücken, harte Schatten von Vorsprüngen auf den Hängen. Unter der Decke hing kalter Rauch. Er steckte in Kleidern, Laken, füllte bitter den Mund. Achmed phantasierte. Jamal rang mit einem Alp. Die Luft war schwer von Ausdünstungen.
Ich stand auf, tastete nach dem Teppich, schlich zum Eingang. El Choli fuhr erschrocken zusammen. Wortlos ging ich an ihm vorbei. Sein Mißtrauen folgte mir. Einen Moment lang dachte ich, er würde durchdrehen, schreien, schießen. Nichts geschah. Die Sterne leuchteten grell, ihre Anordnung ließ keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka.
Sprich: Er ist Gott, der Eine. / Gott, der Undurchdringliche. / Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt / und da ist keiner, der Ihm gleicht.
Aruas Traumgesicht löste sich nicht auf. Ich wurde nicht still. Um mich herum arbeitete der Fels, Brocken stürzten ab, Kies rutschte nach.
Ich saß, ich sitze hier, versuche Kraft zu sammeln, die Gedanken zu ordnen. Sie schweifen, jagen Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch meine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot; froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe. Der Blick von der Anhöhe auf das Rheintal, Dunst über dem Wasser, Haschischrauch im Mund, die Flasche in der Hand, Grillen, laut wie ein Güterzug. Im Rock-Café: Warten auf den Mann, der einen Zopf tragen und sich »Falko« nennen wird. Noch ehe er sich vorstellt, weiß ich, welchen Geschmack Verrat hat. Aruas schlanke Gestalt vor der Pizzeria. Ich möchte sie nach ihrem Namen fragen und wage es nicht.
Samirs Wecker klingelt. Fünf Uhr. Der Tag, auf den wir hingelebt haben, beginnt mit einem häßlichen, elektrisch erzeugten Ton, seiner siebenfachen Wiederholung, gefolgt von Echos, die sich überschneiden. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir in acht Stunden beim Tempel sein. Gedämpfte Stimmen. Obwohl die nächsten Häuser weit entfernt liegen, wird nur das Nötigste gesprochen. El Choli beruhigt sich. Hinter ihm huschen Kegel von Taschenlampen über die Wände. Samir tritt neben ihn, prüft den Horizont.
Noch herrscht Nacht. In wenigen Minuten wird das Dunkel aufbrechen. El Choli flüstert ihm etwas zu, deutet in meine Richtung. Er hält es für einen Fehler, mich mitzunehmen. Einer nach dem anderen kommen die Brüder heraus, gehen zu der Sandfläche, reiben sich den Schmutz des Schlafes vom Leib. Ich wechsle einige Sätze auf deutsch mit Karim. Er erzählt von seiner Schwester. Sie kellnert in einer Studentenkneipe. Seit dem Tod des Vaters trägt er die Verantwortung für sie und wird ihr nicht gerecht.
Schon daß El Choli manchmal nicht versteht, worüber wir sprechen, erbost ihn. Samir winkt mich heran: »Vor dem Kampf ist es wichtig, Ruhe zu finden«, sagt er. »Alle Ruhe liegt in Gott«, antworte ich. Erst jetzt spüre ich die Kälte der Wüste vor Tagesanbruch. Auf meiner Haut ein Film aus trockenem Schweiß, pulverisiertem Stein.
Es beginnt zu dämmern. Hinter den Bergen jenseits des Wadis verbreitert sich ein heller Streifen: die Zeit des Morgengebets. Vielleicht wird es unser letztes sein. Wir stellen uns in einer Reihe hinter Samir auf, der Heiligen Moschee zugewandt, Seite an Seite mit Abraham, Ismael, Jesus, Mohammed, mit allen, die gläubig waren und sind, vor und nach uns.
Bei der Morgenröte! / Und bei den zehn Nächten! / Und beim Geraden und Ungeraden! / Und bei der Nacht, wenn sie vergeht! / Ist das kein Beweis für den, der Verstand hat? / Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den 'Ad verfuhr, / mit Iram, ihrer säulenreichen Stadt, / der nichts im Land glich? / Und mit den Thamuud, die den Fels aushöhlten im Tal? / Und mit Pharao samt seinen Prachtzelten? / Die allerorten frevelten / und Verderben stifteten? / Dein Herr ließ die Geißel der Strafe auf sie niederfahren...
Während meine Stirn den Boden berührt, erlischt die sichtbare Welt. Die unsichtbare wird von Bildern verhüllt: Unsere Mutters Wohnung vollgestopft mit Teddybären; geblümte Schleifen raffen die Gardinen zusammen. Hochwasser; der Pfarrer bringt die Kommunion per Boot; wo er vorbeifährt, bekreuzigen sich die Leute. Meinen Arm in den Rücken gedreht, stößt mich der Zivilfahnder in den Wagen.
»Friede und Gottes Barmherzigkeit sei mit Euch.« Ich wende mich nach rechts, nach links, stehe auf, falte den Teppich zusammen. Ein Vogel gleitet über uns hinweg dem Nil zu. Der graue Streifen Licht hat sich in Gelb verwandelt, das weiter oben die Schwärze durchdringt. Die Kante der Sonne scheint orange über den Hügeln, bringt die Wüste zum Glühen. »Pack dein Zeug, Jochen«, brüllt El Choli. »Ich heiße Abdallah!« antworte ich. »Hört auf herumzuschreien«, zischt Mohammed. Ich gehe zu meinem Platz in der Höhle, rolle die Decke auf, räume Pullover, Konserven, Bücher, das Briefbündel aus dem Rucksack, lege alles auf einen Stapel, dazu die schriftliche Verfügung. Aruas winzigen, von Lippenstift beschmierten Qur'an stecke ich in die Hosentasche.
Shukri hat den Gaskocher angezündet und Wasser aufgesetzt. Der Gestank von neun Männern, die am Vortag durch Gluthitze marschiert sind, ungewaschen eingeschlafen, stört ihn nicht. Er ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie haust in einem einzigen Raum aus Lehmziegeln. Kein eigenes Zimmer, abschließbar, mit Stereoanlage, Gitarre, justierbarem Schreibtischstuhl für eine orthopädisch korrekte Haltung beim Lernen. Ich öffne eine Dose Foul, schütte sie in den zweiten Topf, halte Shukri meinen Becher hin. Er gießt süßen Tee ein.
Die Sonne steht jetzt voll über den Bergen. Nach wie vor wird wenig gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, bereitet sich vor, auf was man sich nicht vorbereiten kann.
Die unsinnige Frage, was andernfalls gewesen wäre: Es ist nicht der Fall.
Der Tee wärmt, schärft die Aufmerksamkeit. Klarheit und Konzentration als physische Reaktionen. Außerdem: Schlafmangel, Leere im Bauch.
Es wird viele Tote geben. So Gott will. Deutsche, Amerikaner. Ich hasse sie nicht. Nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung. Jedem Menschen ist sein Ende bestimmt. Wenn er ausgelöscht wird, verblaßt kein Stern. Am Tag des Gerichts legt seine Haut Zeugnis über ihn ab. Dann wird er in Gärten geführt oder zum Abgrund. Und was läßt dich wissen, was der Abgrund ist? / Loderndes Feuer. Ich bin ein Werkzeug. Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. Vielleicht werden wir sterben. Wen kümmern ein paar Tage mehr oder weniger? Lächerlich, sich daran zu klammern.
Shukri kommt mit dem Topf. Die Bohnen schwimmen in Fett. Zunächst geht er zu Samir. Samir erwartet das nicht, im Gegenteil: Er wäre lieber der letzte. Mehr als Wissen und Erfahrung zeichnet ihn Bescheidenheit aus. Shukri besteht darauf, ihn als ersten zu bedienen. Er ist in der Furcht vor
Höhergestellten aufgewachsen, gewohnt, daß Macht Privilegien bedeutet. Ich nehme eine halbe Kelle statt zwei. Mein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt. Jamal bringt eine Tüte dünnes Fladenbrot. Wir bilden einen offenen Kreis, essen schweigend. Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. Er wird es zurücklassen. Wir haben gestritten, ob der Abstieg bewaffnet oder unbewaffnet erfolgen soll. Meine Argumente gegen Waffen haben die anderen überzeugt, bis auf El Choli. Die Niederlage ist Teil seiner Erbitterung, nicht ihre Ursache. Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyüt. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein. Durch Gottes Rechtleitung wurde meine Suche beendet. Das ist eine besondere Gnade, sagt Karim. Die ich nicht verdiene.
Der Himmel hat jetzt die bleiche Farbe des Tages. Staub verwischt die Konturen der entfernteren Bergketten. Salah wirkt angespannt. Ihm fällt der Brei vom Brot in den Napf zurück. Er greift an sein stoppeliges Kinn, fährt sich übers Haar, als wollte er Fliegen verscheuchen, die es hier nicht gibt. Samir spürt seine Nervosität, legt ihm die Hand auf den Arm. In Salahs Augen leuchtet Dankbarkeit, dann hastet sein Blick über unsere Gesichter, besorgt, daß jemand seine Angst bemerkt. »Gott ist größer«, sagt er, »Er wird uns schützen. Ich bin sicher, wir werden siegen, wie der Prophet in der Schlacht von Badr gesiegt hat.«
Er muß reden, um zu hören, was er denkt, sonst glaubt er es nicht. »So Gott...
Erster Teil
Zwischen Gebeten der Traum: Arua hat mich angeschaut. Ein langer Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Ermutigung noch Abscheu. Zwei schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Dann schloß sie die Augen und drehte sich weg. Das Haar fiel offen über die Schultern. Sie hätte es verhüllen müssen. Trauer, von der ich wach geworden bin. Das falsche Gefühl. Zumindest nicht Angst. Um mich herum war es finster. Die Glut in der Feuerstelle gab kein Licht an den Raum. Ich richtete mich auf. El Choli stand scharf umrissen im Eingang der Höhle. Sein Maschinengewehr teilte Himmel und Landschaft. Draußen schien die Nacht ungewohnt hell. Mond beleuchtete die Bergrücken, harte Schatten von Vorsprüngen auf den Hängen. Unter der Decke hing kalter Rauch. Er steckte in Kleidern, Laken, füllte bitter den Mund. Achmed phantasierte. Jamal rang mit einem Alp. Die Luft war schwer von Ausdünstungen.
Ich stand auf, tastete nach dem Teppich, schlich zum Eingang. El Choli fuhr erschrocken zusammen. Wortlos ging ich an ihm vorbei. Sein Mißtrauen folgte mir. Einen Moment lang dachte ich, er würde durchdrehen, schreien, schießen. Nichts geschah. Die Sterne leuchteten grell, ihre Anordnung ließ keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka.
Sprich: Er ist Gott, der Eine. / Gott, der Undurchdringliche. / Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt / und da ist keiner, der Ihm gleicht.
Aruas Traumgesicht löste sich nicht auf. Ich wurde nicht still. Um mich herum arbeitete der Fels, Brocken stürzten ab, Kies rutschte nach.
Ich saß, ich sitze hier, versuche Kraft zu sammeln, die Gedanken zu ordnen. Sie schweifen, jagen Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch meine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot; froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe. Der Blick von der Anhöhe auf das Rheintal, Dunst über dem Wasser, Haschischrauch im Mund, die Flasche in der Hand, Grillen, laut wie ein Güterzug. Im Rock-Café: Warten auf den Mann, der einen Zopf tragen und sich »Falko« nennen wird. Noch ehe er sich vorstellt, weiß ich, welchen Geschmack Verrat hat. Aruas schlanke Gestalt vor der Pizzeria. Ich möchte sie nach ihrem Namen fragen und wage es nicht.
Samirs Wecker klingelt. Fünf Uhr. Der Tag, auf den wir hingelebt haben, beginnt mit einem häßlichen, elektrisch erzeugten Ton, seiner siebenfachen Wiederholung, gefolgt von Echos, die sich überschneiden. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir in acht Stunden beim Tempel sein. Gedämpfte Stimmen. Obwohl die nächsten Häuser weit entfernt liegen, wird nur das Nötigste gesprochen. El Choli beruhigt sich. Hinter ihm huschen Kegel von Taschenlampen über die Wände. Samir tritt neben ihn, prüft den Horizont.
Noch herrscht Nacht. In wenigen Minuten wird das Dunkel aufbrechen. El Choli flüstert ihm etwas zu, deutet in meine Richtung. Er hält es für einen Fehler, mich mitzunehmen. Einer nach dem anderen kommen die Brüder heraus, gehen zu der Sandfläche, reiben sich den Schmutz des Schlafes vom Leib. Ich wechsle einige Sätze auf deutsch mit Karim. Er erzählt von seiner Schwester. Sie kellnert in einer Studentenkneipe. Seit dem Tod des Vaters trägt er die Verantwortung für sie und wird ihr nicht gerecht.
Schon daß El Choli manchmal nicht versteht, worüber wir sprechen, erbost ihn. Samir winkt mich heran: »Vor dem Kampf ist es wichtig, Ruhe zu finden«, sagt er. »Alle Ruhe liegt in Gott«, antworte ich. Erst jetzt spüre ich die Kälte der Wüste vor Tagesanbruch. Auf meiner Haut ein Film aus trockenem Schweiß, pulverisiertem Stein.
Es beginnt zu dämmern. Hinter den Bergen jenseits des Wadis verbreitert sich ein heller Streifen: die Zeit des Morgengebets. Vielleicht wird es unser letztes sein. Wir stellen uns in einer Reihe hinter Samir auf, der Heiligen Moschee zugewandt, Seite an Seite mit Abraham, Ismael, Jesus, Mohammed, mit allen, die gläubig waren und sind, vor und nach uns.
Bei der Morgenröte! / Und bei den zehn Nächten! / Und beim Geraden und Ungeraden! / Und bei der Nacht, wenn sie vergeht! / Ist das kein Beweis für den, der Verstand hat? / Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den 'Ad verfuhr, / mit Iram, ihrer säulenreichen Stadt, / der nichts im Land glich? / Und mit den Thamuud, die den Fels aushöhlten im Tal? / Und mit Pharao samt seinen Prachtzelten? / Die allerorten frevelten / und Verderben stifteten? / Dein Herr ließ die Geißel der Strafe auf sie niederfahren...
Während meine Stirn den Boden berührt, erlischt die sichtbare Welt. Die unsichtbare wird von Bildern verhüllt: Unsere Mutters Wohnung vollgestopft mit Teddybären; geblümte Schleifen raffen die Gardinen zusammen. Hochwasser; der Pfarrer bringt die Kommunion per Boot; wo er vorbeifährt, bekreuzigen sich die Leute. Meinen Arm in den Rücken gedreht, stößt mich der Zivilfahnder in den Wagen.
»Friede und Gottes Barmherzigkeit sei mit Euch.« Ich wende mich nach rechts, nach links, stehe auf, falte den Teppich zusammen. Ein Vogel gleitet über uns hinweg dem Nil zu. Der graue Streifen Licht hat sich in Gelb verwandelt, das weiter oben die Schwärze durchdringt. Die Kante der Sonne scheint orange über den Hügeln, bringt die Wüste zum Glühen. »Pack dein Zeug, Jochen«, brüllt El Choli. »Ich heiße Abdallah!« antworte ich. »Hört auf herumzuschreien«, zischt Mohammed. Ich gehe zu meinem Platz in der Höhle, rolle die Decke auf, räume Pullover, Konserven, Bücher, das Briefbündel aus dem Rucksack, lege alles auf einen Stapel, dazu die schriftliche Verfügung. Aruas winzigen, von Lippenstift beschmierten Qur'an stecke ich in die Hosentasche.
Shukri hat den Gaskocher angezündet und Wasser aufgesetzt. Der Gestank von neun Männern, die am Vortag durch Gluthitze marschiert sind, ungewaschen eingeschlafen, stört ihn nicht. Er ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie haust in einem einzigen Raum aus Lehmziegeln. Kein eigenes Zimmer, abschließbar, mit Stereoanlage, Gitarre, justierbarem Schreibtischstuhl für eine orthopädisch korrekte Haltung beim Lernen. Ich öffne eine Dose Foul, schütte sie in den zweiten Topf, halte Shukri meinen Becher hin. Er gießt süßen Tee ein.
Die Sonne steht jetzt voll über den Bergen. Nach wie vor wird wenig gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, bereitet sich vor, auf was man sich nicht vorbereiten kann.
Die unsinnige Frage, was andernfalls gewesen wäre: Es ist nicht der Fall.
Der Tee wärmt, schärft die Aufmerksamkeit. Klarheit und Konzentration als physische Reaktionen. Außerdem: Schlafmangel, Leere im Bauch.
Es wird viele Tote geben. So Gott will. Deutsche, Amerikaner. Ich hasse sie nicht. Nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung. Jedem Menschen ist sein Ende bestimmt. Wenn er ausgelöscht wird, verblaßt kein Stern. Am Tag des Gerichts legt seine Haut Zeugnis über ihn ab. Dann wird er in Gärten geführt oder zum Abgrund. Und was läßt dich wissen, was der Abgrund ist? / Loderndes Feuer. Ich bin ein Werkzeug. Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. Vielleicht werden wir sterben. Wen kümmern ein paar Tage mehr oder weniger? Lächerlich, sich daran zu klammern.
Shukri kommt mit dem Topf. Die Bohnen schwimmen in Fett. Zunächst geht er zu Samir. Samir erwartet das nicht, im Gegenteil: Er wäre lieber der letzte. Mehr als Wissen und Erfahrung zeichnet ihn Bescheidenheit aus. Shukri besteht darauf, ihn als ersten zu bedienen. Er ist in der Furcht vor
Höhergestellten aufgewachsen, gewohnt, daß Macht Privilegien bedeutet. Ich nehme eine halbe Kelle statt zwei. Mein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt. Jamal bringt eine Tüte dünnes Fladenbrot. Wir bilden einen offenen Kreis, essen schweigend. Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. Er wird es zurücklassen. Wir haben gestritten, ob der Abstieg bewaffnet oder unbewaffnet erfolgen soll. Meine Argumente gegen Waffen haben die anderen überzeugt, bis auf El Choli. Die Niederlage ist Teil seiner Erbitterung, nicht ihre Ursache. Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyüt. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein. Durch Gottes Rechtleitung wurde meine Suche beendet. Das ist eine besondere Gnade, sagt Karim. Die ich nicht verdiene.
Der Himmel hat jetzt die bleiche Farbe des Tages. Staub verwischt die Konturen der entfernteren Bergketten. Salah wirkt angespannt. Ihm fällt der Brei vom Brot in den Napf zurück. Er greift an sein stoppeliges Kinn, fährt sich übers Haar, als wollte er Fliegen verscheuchen, die es hier nicht gibt. Samir spürt seine Nervosität, legt ihm die Hand auf den Arm. In Salahs Augen leuchtet Dankbarkeit, dann hastet sein Blick über unsere Gesichter, besorgt, daß jemand seine Angst bemerkt. »Gott ist größer«, sagt er, »Er wird uns schützen. Ich bin sicher, wir werden siegen, wie der Prophet in der Schlacht von Badr gesiegt hat.«
Er muß reden, um zu hören, was er denkt, sonst glaubt er es nicht. »So Gott...
Zwischen Gebeten der Traum: Arua hat mich angeschaut. Ein langer Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Ermutigung noch Abscheu. Zwei schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Dann schloß sie die Augen und drehte sich weg. Das Haar fiel offen über die Schultern. Sie hätte es verhüllen müssen. Trauer, von der ich wach geworden bin. Das falsche Gefühl. Zumindest nicht Angst. Um mich herum war es finster. Die Glut in der Feuerstelle gab kein Licht an den Raum. Ich richtete mich auf. El Choli stand scharf umrissen im Eingang der Höhle. Sein Maschinengewehr teilte Himmel und Landschaft. Draußen schien die Nacht ungewohnt hell. Mond beleuchtete die Bergrücken, harte Schatten von Vorsprüngen auf den Hängen. Unter der Decke hing kalter Rauch. Er steckte in Kleidern, Laken, füllte bitter den Mund. Achmed phantasierte. Jamal rang mit einem Alp. Die Luft war schwer von Ausdünstungen.
Ich stand auf, tastete nach dem Teppich, schlich zum Eingang. El Choli fuhr erschrocken zusammen. Wortlos ging ich an ihm vorbei. Sein Mißtrauen folgte mir. Einen Moment lang dachte ich, er würde durchdrehen, schreien, schießen. Nichts geschah. Die Sterne leuchteten grell, ihre Anordnung ließ keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka.
Sprich: Er ist Gott, der Eine. / Gott, der Undurchdringliche. / Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt / und da ist keiner, der Ihm gleicht.
Aruas Traumgesicht löste sich nicht auf. Ich wurde nicht still. Um mich herum arbeitete der Fels, Brocken stürzten ab, Kies rutschte nach.
Ich saß, ich sitze hier, versuche Kraft zu sammeln, die Gedanken zu ordnen. Sie schweifen, jagen Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch meine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot; froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe. Der Blick von der Anhöhe auf das Rheintal, Dunst über dem Wasser, Haschischrauch im Mund, die Flasche in der Hand, Grillen, laut wie ein Güterzug. Im Rock-Café: Warten auf den Mann, der einen Zopf tragen und sich »Falko« nennen wird. Noch ehe er sich vorstellt, weiß ich, welchen Geschmack Verrat hat. Aruas schlanke Gestalt vor der Pizzeria. Ich möchte sie nach ihrem Namen fragen und wage es nicht.
Samirs Wecker klingelt. Fünf Uhr. Der Tag, auf den wir hingelebt haben, beginnt mit einem häßlichen, elektrisch erzeugten Ton, seiner siebenfachen Wiederholung, gefolgt von Echos, die sich überschneiden. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir in acht Stunden beim Tempel sein. Gedämpfte Stimmen. Obwohl die nächsten Häuser weit entfernt liegen, wird nur das Nötigste gesprochen. El Choli beruhigt sich. Hinter ihm huschen Kegel von Taschenlampen über die Wände. Samir tritt neben ihn, prüft den Horizont.
Noch herrscht Nacht. In wenigen Minuten wird das Dunkel aufbrechen. El Choli flüstert ihm etwas zu, deutet in meine Richtung. Er hält es für einen Fehler, mich mitzunehmen. Einer nach dem anderen kommen die Brüder heraus, gehen zu der Sandfläche, reiben sich den Schmutz des Schlafes vom Leib. Ich wechsle einige Sätze auf deutsch mit Karim. Er erzählt von seiner Schwester. Sie kellnert in einer Studentenkneipe. Seit dem Tod des Vaters trägt er die Verantwortung für sie und wird ihr nicht gerecht.
Schon daß El Choli manchmal nicht versteht, worüber wir sprechen, erbost ihn. Samir winkt mich heran: »Vor dem Kampf ist es wichtig, Ruhe zu finden«, sagt er. »Alle Ruhe liegt in Gott«, antworte ich. Erst jetzt spüre ich die Kälte der Wüste vor Tagesanbruch. Auf meiner Haut ein Film aus trockenem Schweiß, pulverisiertem Stein.
Es beginnt zu dämmern. Hinter den Bergen jenseits des Wadis verbreitert sich ein heller Streifen: die Zeit des Morgengebets. Vielleicht wird es unser letztes sein. Wir stellen uns in einer Reihe hinter Samir auf, der Heiligen Moschee zugewandt, Seite an Seite mit Abraham, Ismael, Jesus, Mohammed, mit allen, die gläubig waren und sind, vor und nach uns.
Bei der Morgenröte! / Und bei den zehn Nächten! / Und beim Geraden und Ungeraden! / Und bei der Nacht, wenn sie vergeht! / Ist das kein Beweis für den, der Verstand hat? / Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den 'Ad verfuhr, / mit Iram, ihrer säulenreichen Stadt, / der nichts im Land glich? / Und mit den Thamuud, die den Fels aushöhlten im Tal? / Und mit Pharao samt seinen Prachtzelten? / Die allerorten frevelten / und Verderben stifteten? / Dein Herr ließ die Geißel der Strafe auf sie niederfahren...
Während meine Stirn den Boden berührt, erlischt die sichtbare Welt. Die unsichtbare wird von Bildern verhüllt: Unsere Mutters Wohnung vollgestopft mit Teddybären; geblümte Schleifen raffen die Gardinen zusammen. Hochwasser; der Pfarrer bringt die Kommunion per Boot; wo er vorbeifährt, bekreuzigen sich die Leute. Meinen Arm in den Rücken gedreht, stößt mich der Zivilfahnder in den Wagen.
»Friede und Gottes Barmherzigkeit sei mit Euch.« Ich wende mich nach rechts, nach links, stehe auf, falte den Teppich zusammen. Ein Vogel gleitet über uns hinweg dem Nil zu. Der graue Streifen Licht hat sich in Gelb verwandelt, das weiter oben die Schwärze durchdringt. Die Kante der Sonne scheint orange über den Hügeln, bringt die Wüste zum Glühen. »Pack dein Zeug, Jochen«, brüllt El Choli. »Ich heiße Abdallah!« antworte ich. »Hört auf herumzuschreien«, zischt Mohammed. Ich gehe zu meinem Platz in der Höhle, rolle die Decke auf, räume Pullover, Konserven, Bücher, das Briefbündel aus dem Rucksack, lege alles auf einen Stapel, dazu die schriftliche Verfügung. Aruas winzigen, von Lippenstift beschmierten Qur'an stecke ich in die Hosentasche.
Shukri hat den Gaskocher angezündet und Wasser aufgesetzt. Der Gestank von neun Männern, die am Vortag durch Gluthitze marschiert sind, ungewaschen eingeschlafen, stört ihn nicht. Er ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie haust in einem einzigen Raum aus Lehmziegeln. Kein eigenes Zimmer, abschließbar, mit Stereoanlage, Gitarre, justierbarem Schreibtischstuhl für eine orthopädisch korrekte Haltung beim Lernen. Ich öffne eine Dose Foul, schütte sie in den zweiten Topf, halte Shukri meinen Becher hin. Er gießt süßen Tee ein.
Die Sonne steht jetzt voll über den Bergen. Nach wie vor wird wenig gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, bereitet sich vor, auf was man sich nicht vorbereiten kann.
Die unsinnige Frage, was andernfalls gewesen wäre: Es ist nicht der Fall.
Der Tee wärmt, schärft die Aufmerksamkeit. Klarheit und Konzentration als physische Reaktionen. Außerdem: Schlafmangel, Leere im Bauch.
Es wird viele Tote geben. So Gott will. Deutsche, Amerikaner. Ich hasse sie nicht. Nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung. Jedem Menschen ist sein Ende bestimmt. Wenn er ausgelöscht wird, verblaßt kein Stern. Am Tag des Gerichts legt seine Haut Zeugnis über ihn ab. Dann wird er in Gärten geführt oder zum Abgrund. Und was läßt dich wissen, was der Abgrund ist? / Loderndes Feuer. Ich bin ein Werkzeug. Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. Vielleicht werden wir sterben. Wen kümmern ein paar Tage mehr oder weniger? Lächerlich, sich daran zu klammern.
Shukri kommt mit dem Topf. Die Bohnen schwimmen in Fett. Zunächst geht er zu Samir. Samir erwartet das nicht, im Gegenteil: Er wäre lieber der letzte. Mehr als Wissen und Erfahrung zeichnet ihn Bescheidenheit aus. Shukri besteht darauf, ihn als ersten zu bedienen. Er ist in der Furcht vor
Höhergestellten aufgewachsen, gewohnt, daß Macht Privilegien bedeutet. Ich nehme eine halbe Kelle statt zwei. Mein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt. Jamal bringt eine Tüte dünnes Fladenbrot. Wir bilden einen offenen Kreis, essen schweigend. Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. Er wird es zurücklassen. Wir haben gestritten, ob der Abstieg bewaffnet oder unbewaffnet erfolgen soll. Meine Argumente gegen Waffen haben die anderen überzeugt, bis auf El Choli. Die Niederlage ist Teil seiner Erbitterung, nicht ihre Ursache. Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyüt. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein. Durch Gottes Rechtleitung wurde meine Suche beendet. Das ist eine besondere Gnade, sagt Karim. Die ich nicht verdiene.
Der Himmel hat jetzt die bleiche Farbe des Tages. Staub verwischt die Konturen der entfernteren Bergketten. Salah wirkt angespannt. Ihm fällt der Brei vom Brot in den Napf zurück. Er greift an sein stoppeliges Kinn, fährt sich übers Haar, als wollte er Fliegen verscheuchen, die es hier nicht gibt. Samir spürt seine Nervosität, legt ihm die Hand auf den Arm. In Salahs Augen leuchtet Dankbarkeit, dann hastet sein Blick über unsere Gesichter, besorgt, daß jemand seine Angst bemerkt. »Gott ist größer«, sagt er, »Er wird uns schützen. Ich bin sicher, wir werden siegen, wie der Prophet in der Schlacht von Badr gesiegt hat.«
Er muß reden, um zu hören, was er denkt, sonst glaubt er es nicht. »So Gott...
Details
Erscheinungsjahr: | 2008 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 318 S. |
ISBN-13: | 9783442737680 |
ISBN-10: | 3442737680 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Peters, Christoph |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 189 x 120 x 25 mm |
Von/Mit: | Christoph Peters |
Erscheinungsdatum: | 01.07.2008 |
Gewicht: | 0,294 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2008 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Inhalt: | 318 S. |
ISBN-13: | 9783442737680 |
ISBN-10: | 3442737680 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | Peters, Christoph |
btb verlag: | btb Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 189 x 120 x 25 mm |
Von/Mit: | Christoph Peters |
Erscheinungsdatum: | 01.07.2008 |
Gewicht: | 0,294 kg |
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