Dekorationsartikel gehören nicht zum Leistungsumfang.
Sprache:
Deutsch
19,99 €*
Versandkostenfrei per Post / DHL
Aktuell nicht verfügbar
Kategorien:
Beschreibung
Einmal in der Woche traf Rühl sich mit Sybille Bär, einer geschiedenen Kollegin aus dem Droste-Hülshoff-Gymnasium, und schlief mit ihr, was er sehr angenehm fand. Mit seinem großen Projekt, einem Liebesroman, war Rühl seit Monaten nicht vorangekommen. Ihm fehlte die innere Ruhe. Auf den Straßen wurde demonstriert, Terroristen verübten Anschläge. Die Amerikaner hatten den Mond erobert, an der Eroberung von Vietnam waren sie gescheitert. Das Ende des Krieges konnte nur noch eine Frage von Monaten sein. Rühl hatte den Eindruck, dass dies eine aufregende Zeit war, aber ihm fehlte der Zugang zu diesen Dingen. Er konnte sich für die Zukunft nicht begeistern. Trotzdem las er gründlicher Zeitung als früher und schaute regelmäßig die Nachrichten im Fernsehen. Allmählich schien die Unruhe auch die Schule zu ergreifen, manchmal sah er am Morgen vor dem Schultor junge Männer, wahrscheinlich Studenten, die Flugblätter verteilten. Einmal hatte auch er ein Flugblatt genommen. Die Männer verlangten, dass verhaftete Terroristen als Kriegsgefangene angesehen würden.
Rühls Unterricht war beliebt. Er hörte das von Kollegen. Stolz war er darauf nicht, seiner Ansicht nach war er kein guter Lehrer. Die Schüler wurden von ihm in Ruhe gelassen, das mochten sie. Er ging in das Klassenzimmer, grüßte, setzte sich und sprach nahezu die gesamten fünfundvierzig Minuten lang. Nur selten stellte er eine Frage. Während er redete, malte er auf einem Blatt Papier, das vor ihm lag, geometrische Figuren. In der ersten Stunde hatte er gesagt: »Sie können mir zuhören, Sie können es auch lassen. Wenn Sie während des Unterrichts etwas anderes tun möchten, setzen Sie sich bitte nach hinten und versuchen Sie, leise zu sein.«
Rühl trug immer einen Anzug. Er sprach halblaut, sodass er nur in den ersten Reihen gut zu verstehen war. Die meisten Schüler lasen, machten Hausaufgaben für andere Fächer oder unterhielten sich. Wenn ihm das Gesumm der Gespräche zu laut wurde, verstummte Rühl für einige Minuten, er stand dann auf, ging zum Fenster und schaute hinaus, bis es ruhiger geworden war.
Zu dieser Zeit behandelte er Kleist, einen Dichter, den er heimlich verachtete, nicht wegen seines Werkes, das natürlich hochrespektabel war, sondern wegen seines theatralischen Endes. Heinrich von Kleists Selbstmord am Wannsee, mit dem er die Welt und seine große Liebe zu beeindrucken versuchte - nun, das war dumm, aber letztlich seine Sache. Kleist hatte allerdings eine junge Frau, Henriette Vogel, die er noch gar nicht lange kannte, dazu überredet, mit ihm in den Tod zu gehen. Diese Frau war verheiratet, hatte ein Kind, war allerdings schwer krank und dementsprechend verzweifelt, das ideale Opfer für einen Romantiker, der Blut sehen will. Kleist hatte zuerst Henriette Vogel erschossen, dann erst Hand an sich selber gelegt. Henriette Vogel war eine Geisel, die hingerichtet wurde, um die Welt zur Hochachtung für einen überspannten Literaten zu erpressen. Starke Gefühle und Revolutionen führten nach Rühls Ansicht im Allgemeinen zum gleichen Ergebnis, Terror und Unglück.
Wer kann schon die Grenze ziehen zwischen sogenannter Liebe und Narzissmus? Sicher ist bei so etwas nur, dass es Verluste gibt, der Gewinn ist ungewiss.
In Rühls Roman sollte es um ein Paar gehen, das zu Beginn leidenschaftlich verliebt und vollkommen unglücklich ist, am Ende sollten sie einander gleichgültig und hochzufrieden sein.
Die Liebe, das war natürlich etwas, das fast alle anstreben, eine Utopie, ein Ideal. Rühl hatte vor, dieses Phänomen mit anderen Utopien und Idealen zu vergleichen, dem Sozialismus, dem Frieden, dem Wohlstand für alle. Diese Ziele klangen alle gut und entfalteten trotzdem in der Regel eine destruktive Wirkung, wenn man sie zu ernst nahm. Viel weiter war er mit seinen Überlegungen noch nicht gekommen.
Der Klassenfahrt sah Rühl mit bösen Ahnungen entgegen. Die Schüler würden abends in ihren Zimmern trinken und feiern, von ihm würde man erwarten, dass er auf die Einhaltung der Regeln bestand. Er würde laut werden müssen und dabei lächerlich wirken, vielleicht würde er auch den Dingen ihren Lauf lassen und hinterher von den Eltern und dem Direktor mit Vorwürfen überzogen werden. Ein erfreulicher Verlauf der Klassenfahrt lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Die zweite Begleitperson, eine Kollegin kurz vor der Pensionsgrenze, Sport und Biologie, war zum Glück eine resolute Person, auf ihr ruhten Rühls ganze Hoffnungen.
Sie fuhren zu einer Burg am Rhein, die zu einem Begegnungszentrum und Schullandheim ausgebaut worden war. Am ersten Nachmittag besichtigten sie ein römisches Kastell, was die Schüler mit erwartungsfroher Gelassenheit über sich ergehen ließen. Der Rest des Tages war mit der Verteilung der Betten in den Zimmern ausgefüllt, ein stundenlanges Hin und Her, Geschrei, Palaver. Zwei- oder dreimal wurde Rühl gebeten, einen Streit zu schlichten, aber er zuckte nur mit den Achseln. Entweder wurde so etwas von den Lehrern entschieden, oder die Schüler organisierten es selber. Darum hatten sie gebeten, er hatte zugestimmt, was wollten sie jetzt von ihm.
Beim Abendessen saßen die Kollegin und er an einem separaten Tisch. Die Herbergseltern trugen Wurst, Käse und Mixed Pickles auf.
Rühl hätte gern ein Bier getrunken. Aber er wollte kein schlechtes Beispiel geben, also holte er sich eine Flasche Zitronenlimonade und trug seinen Namen in die Liste ein, die neben den Getränkekisten an der Wand klebte. Vier Tage sollte der Aufenthalt dauern, bis zum Donnerstag. Rühl hatte, um nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geschickt zu werden, als sehr junger Mensch vier Tage in einem Luftschutzbunker verbracht, angeblich verletzt, mit einem dicken Kopfverband, ohne Toilette, das habe ich auch überstanden, sagte er sich. Den Freitag würde er zum Glück frei haben. Er nahm sich vor, Sybille Bär anzurufen und sich für den Freitagabend mit ihr zu verabreden.
Als er in sein Zimmer eintrat, eigentlich eher eine Kammer, am Ende des Ganges, sah er, dass auf seinem Bett ein Päckchen lag. Es war etwas kleiner als eine Schokoladentafel und sehr bunt. Auf dem Papier klebten bunte Prilblumen. Das Päckchen enthielt eine Musikkassette und einen Brief.
»Lieber Dr. Rühl! Ich hoffe, die Musik gefällt Ihnen. Seien Sie nicht böse. Sie sind mein Lieblingslehrer. Es war an der Zeit, dass ich auch einmal etwas für Sie tue. N.«
In den beiden Klassen gab es nur zwei Mädchen, deren Vornamen mit einem »N« begannen, eine Schüchterne, Unscheinbare, Dämliche und eine gazellenhafte, ständig von Jungs umschwärmte Schönheit, obendrein die beste Schülerin des Jahrgangs. Dies hier passte wohl eher zu dem dämlichen Exemplar. Trotzdem war Rühl sicher, dass seine Verehrerin die schöne, kluge N. aus der Unterprima B war. Diese N. gehörte zu der Handvoll Schüler, die bei ihm immer in den vorderen Reihen saßen und ihm, bis auf Doubek, konzentriert zuhörten. Kein Wunder, N. war ehrgeizig und stand fast überall auf eins, auch bei Rühl. Neben ihr saßen meistens ein gewisser Benno, unauffällig, faul, aber nicht dumm, und der bei allen Kollegen gefürchtete Doubek, renitent, laut, bösartig, demnächst hoffentlich zum zweiten Mal sitzen geblieben und von der Schule verwiesen. Wenn N. in der Nähe war, betrug Doubek sich allerdings fast mustergültig, in Rühls Stunden tat er so, als lese er in den Schriften von Mao Tsetung. Beide Jungen waren so offensichtlich in N. verliebt, dass sogar Rühl es bemerkte.
Der Brief war, wenn man einmal darüber nachdachte, harmlos. Die Abkürzung des Namens, nun, das war ein romantisches Klischee, bei Kleist findet sich das auch, die Marquise von O., eigentlich gab nur dieses Detail dem kleinen Brief eine frivole Note. War es verboten, Geschenke von Schülern entgegenzunehmen? Das hing wahrscheinlich vom Wert des Geschenks ab. Rühl beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wahrscheinlich tat er damit sogar das pädagogisch Richtige. Die Kassette zurückzugeben wäre ein pathetischer Akt gewesen, demütigend für die Schülerin, peinlich für ihn selbst.
Rühl hörte aus dem Aufenthaltsraum Lachen und das Klirren einer zerberstenden Bierflasche, dann dröhnte die Stimme seiner Kollegin, ein kräftiger, tiefer, Alt, fast schon Tenor. Danach war Ruhe. Sie hatten verabredet, dass sie sich die nächtliche Aufsicht teilten, nur im äußersten Notfall würde man sich gegenseitig zu Hilfe rufen. Rühl schlief ein.
Beim Frühstück stieß er, als er sich an der Theke ein zweites Kännchen Kaffee holte, beinahe mit N. zusammen, die einen Teller mit Käse und Marmelade trug. N. lächelte ihn an.
Rühl sagte: »Vielen Dank, Sie wissen schon, wofür, das hat mich sehr gefreut.« N. antwortete: »Ich mag Sie, weil Sie kein Angeber sind. Sie durchschauen diese ganze Scheiße. Sie stehen über den Dingen.«
Rühl spürte, dass er rot wurde. Außerdem bemerkte er, dass sie, nur zwei oder drei Meter entfernt, von Doubek beobachtet wurden. Vielleicht hatte Doubek ihren Dialog mitgehört. Rühl sagte: »Das ist schön«, und ging. Stand er über den Dingen? So hatte er es noch nie betrachtet. Ja. Eigentlich stimmte es.
Am Vormittag fuhren sie mit einem Reisebus nach Koblenz, zum Deutschen Eck, nachmittags trugen die Schüler ein Tischtennisturnier aus. Doubek siegte. N. gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die sich nicht für Tischtennis interessierten und eine kleine Wanderung hinunter zum Rheinufer unternahmen, begleitet von der Kollegin. Rühl versuchte, über den Dingen zu stehen.
Beim Abendessen setzten sich N. und ein anderes Mädchen an Rühls Tisch, vorher fragten sie um Erlaubnis. Rühls Kollegin lud sie mit einer Handbewegung ein, kein Problem, gerne. Rühl sprach mehr als üblich. Später, als die Schüler sich in den Burghof setzten, redeten, lachten und heimlich Bier tranken, holte Rühl sich aus seinem Zimmer ein Buch, setzte sich auf eine Treppe, von der aus er die Schüler im Blick hatte, und las. N. sprach mit dem Mädchen, das mit ihr...
Rühls Unterricht war beliebt. Er hörte das von Kollegen. Stolz war er darauf nicht, seiner Ansicht nach war er kein guter Lehrer. Die Schüler wurden von ihm in Ruhe gelassen, das mochten sie. Er ging in das Klassenzimmer, grüßte, setzte sich und sprach nahezu die gesamten fünfundvierzig Minuten lang. Nur selten stellte er eine Frage. Während er redete, malte er auf einem Blatt Papier, das vor ihm lag, geometrische Figuren. In der ersten Stunde hatte er gesagt: »Sie können mir zuhören, Sie können es auch lassen. Wenn Sie während des Unterrichts etwas anderes tun möchten, setzen Sie sich bitte nach hinten und versuchen Sie, leise zu sein.«
Rühl trug immer einen Anzug. Er sprach halblaut, sodass er nur in den ersten Reihen gut zu verstehen war. Die meisten Schüler lasen, machten Hausaufgaben für andere Fächer oder unterhielten sich. Wenn ihm das Gesumm der Gespräche zu laut wurde, verstummte Rühl für einige Minuten, er stand dann auf, ging zum Fenster und schaute hinaus, bis es ruhiger geworden war.
Zu dieser Zeit behandelte er Kleist, einen Dichter, den er heimlich verachtete, nicht wegen seines Werkes, das natürlich hochrespektabel war, sondern wegen seines theatralischen Endes. Heinrich von Kleists Selbstmord am Wannsee, mit dem er die Welt und seine große Liebe zu beeindrucken versuchte - nun, das war dumm, aber letztlich seine Sache. Kleist hatte allerdings eine junge Frau, Henriette Vogel, die er noch gar nicht lange kannte, dazu überredet, mit ihm in den Tod zu gehen. Diese Frau war verheiratet, hatte ein Kind, war allerdings schwer krank und dementsprechend verzweifelt, das ideale Opfer für einen Romantiker, der Blut sehen will. Kleist hatte zuerst Henriette Vogel erschossen, dann erst Hand an sich selber gelegt. Henriette Vogel war eine Geisel, die hingerichtet wurde, um die Welt zur Hochachtung für einen überspannten Literaten zu erpressen. Starke Gefühle und Revolutionen führten nach Rühls Ansicht im Allgemeinen zum gleichen Ergebnis, Terror und Unglück.
Wer kann schon die Grenze ziehen zwischen sogenannter Liebe und Narzissmus? Sicher ist bei so etwas nur, dass es Verluste gibt, der Gewinn ist ungewiss.
In Rühls Roman sollte es um ein Paar gehen, das zu Beginn leidenschaftlich verliebt und vollkommen unglücklich ist, am Ende sollten sie einander gleichgültig und hochzufrieden sein.
Die Liebe, das war natürlich etwas, das fast alle anstreben, eine Utopie, ein Ideal. Rühl hatte vor, dieses Phänomen mit anderen Utopien und Idealen zu vergleichen, dem Sozialismus, dem Frieden, dem Wohlstand für alle. Diese Ziele klangen alle gut und entfalteten trotzdem in der Regel eine destruktive Wirkung, wenn man sie zu ernst nahm. Viel weiter war er mit seinen Überlegungen noch nicht gekommen.
Der Klassenfahrt sah Rühl mit bösen Ahnungen entgegen. Die Schüler würden abends in ihren Zimmern trinken und feiern, von ihm würde man erwarten, dass er auf die Einhaltung der Regeln bestand. Er würde laut werden müssen und dabei lächerlich wirken, vielleicht würde er auch den Dingen ihren Lauf lassen und hinterher von den Eltern und dem Direktor mit Vorwürfen überzogen werden. Ein erfreulicher Verlauf der Klassenfahrt lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Die zweite Begleitperson, eine Kollegin kurz vor der Pensionsgrenze, Sport und Biologie, war zum Glück eine resolute Person, auf ihr ruhten Rühls ganze Hoffnungen.
Sie fuhren zu einer Burg am Rhein, die zu einem Begegnungszentrum und Schullandheim ausgebaut worden war. Am ersten Nachmittag besichtigten sie ein römisches Kastell, was die Schüler mit erwartungsfroher Gelassenheit über sich ergehen ließen. Der Rest des Tages war mit der Verteilung der Betten in den Zimmern ausgefüllt, ein stundenlanges Hin und Her, Geschrei, Palaver. Zwei- oder dreimal wurde Rühl gebeten, einen Streit zu schlichten, aber er zuckte nur mit den Achseln. Entweder wurde so etwas von den Lehrern entschieden, oder die Schüler organisierten es selber. Darum hatten sie gebeten, er hatte zugestimmt, was wollten sie jetzt von ihm.
Beim Abendessen saßen die Kollegin und er an einem separaten Tisch. Die Herbergseltern trugen Wurst, Käse und Mixed Pickles auf.
Rühl hätte gern ein Bier getrunken. Aber er wollte kein schlechtes Beispiel geben, also holte er sich eine Flasche Zitronenlimonade und trug seinen Namen in die Liste ein, die neben den Getränkekisten an der Wand klebte. Vier Tage sollte der Aufenthalt dauern, bis zum Donnerstag. Rühl hatte, um nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geschickt zu werden, als sehr junger Mensch vier Tage in einem Luftschutzbunker verbracht, angeblich verletzt, mit einem dicken Kopfverband, ohne Toilette, das habe ich auch überstanden, sagte er sich. Den Freitag würde er zum Glück frei haben. Er nahm sich vor, Sybille Bär anzurufen und sich für den Freitagabend mit ihr zu verabreden.
Als er in sein Zimmer eintrat, eigentlich eher eine Kammer, am Ende des Ganges, sah er, dass auf seinem Bett ein Päckchen lag. Es war etwas kleiner als eine Schokoladentafel und sehr bunt. Auf dem Papier klebten bunte Prilblumen. Das Päckchen enthielt eine Musikkassette und einen Brief.
»Lieber Dr. Rühl! Ich hoffe, die Musik gefällt Ihnen. Seien Sie nicht böse. Sie sind mein Lieblingslehrer. Es war an der Zeit, dass ich auch einmal etwas für Sie tue. N.«
In den beiden Klassen gab es nur zwei Mädchen, deren Vornamen mit einem »N« begannen, eine Schüchterne, Unscheinbare, Dämliche und eine gazellenhafte, ständig von Jungs umschwärmte Schönheit, obendrein die beste Schülerin des Jahrgangs. Dies hier passte wohl eher zu dem dämlichen Exemplar. Trotzdem war Rühl sicher, dass seine Verehrerin die schöne, kluge N. aus der Unterprima B war. Diese N. gehörte zu der Handvoll Schüler, die bei ihm immer in den vorderen Reihen saßen und ihm, bis auf Doubek, konzentriert zuhörten. Kein Wunder, N. war ehrgeizig und stand fast überall auf eins, auch bei Rühl. Neben ihr saßen meistens ein gewisser Benno, unauffällig, faul, aber nicht dumm, und der bei allen Kollegen gefürchtete Doubek, renitent, laut, bösartig, demnächst hoffentlich zum zweiten Mal sitzen geblieben und von der Schule verwiesen. Wenn N. in der Nähe war, betrug Doubek sich allerdings fast mustergültig, in Rühls Stunden tat er so, als lese er in den Schriften von Mao Tsetung. Beide Jungen waren so offensichtlich in N. verliebt, dass sogar Rühl es bemerkte.
Der Brief war, wenn man einmal darüber nachdachte, harmlos. Die Abkürzung des Namens, nun, das war ein romantisches Klischee, bei Kleist findet sich das auch, die Marquise von O., eigentlich gab nur dieses Detail dem kleinen Brief eine frivole Note. War es verboten, Geschenke von Schülern entgegenzunehmen? Das hing wahrscheinlich vom Wert des Geschenks ab. Rühl beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wahrscheinlich tat er damit sogar das pädagogisch Richtige. Die Kassette zurückzugeben wäre ein pathetischer Akt gewesen, demütigend für die Schülerin, peinlich für ihn selbst.
Rühl hörte aus dem Aufenthaltsraum Lachen und das Klirren einer zerberstenden Bierflasche, dann dröhnte die Stimme seiner Kollegin, ein kräftiger, tiefer, Alt, fast schon Tenor. Danach war Ruhe. Sie hatten verabredet, dass sie sich die nächtliche Aufsicht teilten, nur im äußersten Notfall würde man sich gegenseitig zu Hilfe rufen. Rühl schlief ein.
Beim Frühstück stieß er, als er sich an der Theke ein zweites Kännchen Kaffee holte, beinahe mit N. zusammen, die einen Teller mit Käse und Marmelade trug. N. lächelte ihn an.
Rühl sagte: »Vielen Dank, Sie wissen schon, wofür, das hat mich sehr gefreut.« N. antwortete: »Ich mag Sie, weil Sie kein Angeber sind. Sie durchschauen diese ganze Scheiße. Sie stehen über den Dingen.«
Rühl spürte, dass er rot wurde. Außerdem bemerkte er, dass sie, nur zwei oder drei Meter entfernt, von Doubek beobachtet wurden. Vielleicht hatte Doubek ihren Dialog mitgehört. Rühl sagte: »Das ist schön«, und ging. Stand er über den Dingen? So hatte er es noch nie betrachtet. Ja. Eigentlich stimmte es.
Am Vormittag fuhren sie mit einem Reisebus nach Koblenz, zum Deutschen Eck, nachmittags trugen die Schüler ein Tischtennisturnier aus. Doubek siegte. N. gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die sich nicht für Tischtennis interessierten und eine kleine Wanderung hinunter zum Rheinufer unternahmen, begleitet von der Kollegin. Rühl versuchte, über den Dingen zu stehen.
Beim Abendessen setzten sich N. und ein anderes Mädchen an Rühls Tisch, vorher fragten sie um Erlaubnis. Rühls Kollegin lud sie mit einer Handbewegung ein, kein Problem, gerne. Rühl sprach mehr als üblich. Später, als die Schüler sich in den Burghof setzten, redeten, lachten und heimlich Bier tranken, holte Rühl sich aus seinem Zimmer ein Buch, setzte sich auf eine Treppe, von der aus er die Schüler im Blick hatte, und las. N. sprach mit dem Mädchen, das mit ihr...
Einmal in der Woche traf Rühl sich mit Sybille Bär, einer geschiedenen Kollegin aus dem Droste-Hülshoff-Gymnasium, und schlief mit ihr, was er sehr angenehm fand. Mit seinem großen Projekt, einem Liebesroman, war Rühl seit Monaten nicht vorangekommen. Ihm fehlte die innere Ruhe. Auf den Straßen wurde demonstriert, Terroristen verübten Anschläge. Die Amerikaner hatten den Mond erobert, an der Eroberung von Vietnam waren sie gescheitert. Das Ende des Krieges konnte nur noch eine Frage von Monaten sein. Rühl hatte den Eindruck, dass dies eine aufregende Zeit war, aber ihm fehlte der Zugang zu diesen Dingen. Er konnte sich für die Zukunft nicht begeistern. Trotzdem las er gründlicher Zeitung als früher und schaute regelmäßig die Nachrichten im Fernsehen. Allmählich schien die Unruhe auch die Schule zu ergreifen, manchmal sah er am Morgen vor dem Schultor junge Männer, wahrscheinlich Studenten, die Flugblätter verteilten. Einmal hatte auch er ein Flugblatt genommen. Die Männer verlangten, dass verhaftete Terroristen als Kriegsgefangene angesehen würden.
Rühls Unterricht war beliebt. Er hörte das von Kollegen. Stolz war er darauf nicht, seiner Ansicht nach war er kein guter Lehrer. Die Schüler wurden von ihm in Ruhe gelassen, das mochten sie. Er ging in das Klassenzimmer, grüßte, setzte sich und sprach nahezu die gesamten fünfundvierzig Minuten lang. Nur selten stellte er eine Frage. Während er redete, malte er auf einem Blatt Papier, das vor ihm lag, geometrische Figuren. In der ersten Stunde hatte er gesagt: »Sie können mir zuhören, Sie können es auch lassen. Wenn Sie während des Unterrichts etwas anderes tun möchten, setzen Sie sich bitte nach hinten und versuchen Sie, leise zu sein.«
Rühl trug immer einen Anzug. Er sprach halblaut, sodass er nur in den ersten Reihen gut zu verstehen war. Die meisten Schüler lasen, machten Hausaufgaben für andere Fächer oder unterhielten sich. Wenn ihm das Gesumm der Gespräche zu laut wurde, verstummte Rühl für einige Minuten, er stand dann auf, ging zum Fenster und schaute hinaus, bis es ruhiger geworden war.
Zu dieser Zeit behandelte er Kleist, einen Dichter, den er heimlich verachtete, nicht wegen seines Werkes, das natürlich hochrespektabel war, sondern wegen seines theatralischen Endes. Heinrich von Kleists Selbstmord am Wannsee, mit dem er die Welt und seine große Liebe zu beeindrucken versuchte - nun, das war dumm, aber letztlich seine Sache. Kleist hatte allerdings eine junge Frau, Henriette Vogel, die er noch gar nicht lange kannte, dazu überredet, mit ihm in den Tod zu gehen. Diese Frau war verheiratet, hatte ein Kind, war allerdings schwer krank und dementsprechend verzweifelt, das ideale Opfer für einen Romantiker, der Blut sehen will. Kleist hatte zuerst Henriette Vogel erschossen, dann erst Hand an sich selber gelegt. Henriette Vogel war eine Geisel, die hingerichtet wurde, um die Welt zur Hochachtung für einen überspannten Literaten zu erpressen. Starke Gefühle und Revolutionen führten nach Rühls Ansicht im Allgemeinen zum gleichen Ergebnis, Terror und Unglück.
Wer kann schon die Grenze ziehen zwischen sogenannter Liebe und Narzissmus? Sicher ist bei so etwas nur, dass es Verluste gibt, der Gewinn ist ungewiss.
In Rühls Roman sollte es um ein Paar gehen, das zu Beginn leidenschaftlich verliebt und vollkommen unglücklich ist, am Ende sollten sie einander gleichgültig und hochzufrieden sein.
Die Liebe, das war natürlich etwas, das fast alle anstreben, eine Utopie, ein Ideal. Rühl hatte vor, dieses Phänomen mit anderen Utopien und Idealen zu vergleichen, dem Sozialismus, dem Frieden, dem Wohlstand für alle. Diese Ziele klangen alle gut und entfalteten trotzdem in der Regel eine destruktive Wirkung, wenn man sie zu ernst nahm. Viel weiter war er mit seinen Überlegungen noch nicht gekommen.
Der Klassenfahrt sah Rühl mit bösen Ahnungen entgegen. Die Schüler würden abends in ihren Zimmern trinken und feiern, von ihm würde man erwarten, dass er auf die Einhaltung der Regeln bestand. Er würde laut werden müssen und dabei lächerlich wirken, vielleicht würde er auch den Dingen ihren Lauf lassen und hinterher von den Eltern und dem Direktor mit Vorwürfen überzogen werden. Ein erfreulicher Verlauf der Klassenfahrt lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Die zweite Begleitperson, eine Kollegin kurz vor der Pensionsgrenze, Sport und Biologie, war zum Glück eine resolute Person, auf ihr ruhten Rühls ganze Hoffnungen.
Sie fuhren zu einer Burg am Rhein, die zu einem Begegnungszentrum und Schullandheim ausgebaut worden war. Am ersten Nachmittag besichtigten sie ein römisches Kastell, was die Schüler mit erwartungsfroher Gelassenheit über sich ergehen ließen. Der Rest des Tages war mit der Verteilung der Betten in den Zimmern ausgefüllt, ein stundenlanges Hin und Her, Geschrei, Palaver. Zwei- oder dreimal wurde Rühl gebeten, einen Streit zu schlichten, aber er zuckte nur mit den Achseln. Entweder wurde so etwas von den Lehrern entschieden, oder die Schüler organisierten es selber. Darum hatten sie gebeten, er hatte zugestimmt, was wollten sie jetzt von ihm.
Beim Abendessen saßen die Kollegin und er an einem separaten Tisch. Die Herbergseltern trugen Wurst, Käse und Mixed Pickles auf.
Rühl hätte gern ein Bier getrunken. Aber er wollte kein schlechtes Beispiel geben, also holte er sich eine Flasche Zitronenlimonade und trug seinen Namen in die Liste ein, die neben den Getränkekisten an der Wand klebte. Vier Tage sollte der Aufenthalt dauern, bis zum Donnerstag. Rühl hatte, um nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geschickt zu werden, als sehr junger Mensch vier Tage in einem Luftschutzbunker verbracht, angeblich verletzt, mit einem dicken Kopfverband, ohne Toilette, das habe ich auch überstanden, sagte er sich. Den Freitag würde er zum Glück frei haben. Er nahm sich vor, Sybille Bär anzurufen und sich für den Freitagabend mit ihr zu verabreden.
Als er in sein Zimmer eintrat, eigentlich eher eine Kammer, am Ende des Ganges, sah er, dass auf seinem Bett ein Päckchen lag. Es war etwas kleiner als eine Schokoladentafel und sehr bunt. Auf dem Papier klebten bunte Prilblumen. Das Päckchen enthielt eine Musikkassette und einen Brief.
»Lieber Dr. Rühl! Ich hoffe, die Musik gefällt Ihnen. Seien Sie nicht böse. Sie sind mein Lieblingslehrer. Es war an der Zeit, dass ich auch einmal etwas für Sie tue. N.«
In den beiden Klassen gab es nur zwei Mädchen, deren Vornamen mit einem »N« begannen, eine Schüchterne, Unscheinbare, Dämliche und eine gazellenhafte, ständig von Jungs umschwärmte Schönheit, obendrein die beste Schülerin des Jahrgangs. Dies hier passte wohl eher zu dem dämlichen Exemplar. Trotzdem war Rühl sicher, dass seine Verehrerin die schöne, kluge N. aus der Unterprima B war. Diese N. gehörte zu der Handvoll Schüler, die bei ihm immer in den vorderen Reihen saßen und ihm, bis auf Doubek, konzentriert zuhörten. Kein Wunder, N. war ehrgeizig und stand fast überall auf eins, auch bei Rühl. Neben ihr saßen meistens ein gewisser Benno, unauffällig, faul, aber nicht dumm, und der bei allen Kollegen gefürchtete Doubek, renitent, laut, bösartig, demnächst hoffentlich zum zweiten Mal sitzen geblieben und von der Schule verwiesen. Wenn N. in der Nähe war, betrug Doubek sich allerdings fast mustergültig, in Rühls Stunden tat er so, als lese er in den Schriften von Mao Tsetung. Beide Jungen waren so offensichtlich in N. verliebt, dass sogar Rühl es bemerkte.
Der Brief war, wenn man einmal darüber nachdachte, harmlos. Die Abkürzung des Namens, nun, das war ein romantisches Klischee, bei Kleist findet sich das auch, die Marquise von O., eigentlich gab nur dieses Detail dem kleinen Brief eine frivole Note. War es verboten, Geschenke von Schülern entgegenzunehmen? Das hing wahrscheinlich vom Wert des Geschenks ab. Rühl beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wahrscheinlich tat er damit sogar das pädagogisch Richtige. Die Kassette zurückzugeben wäre ein pathetischer Akt gewesen, demütigend für die Schülerin, peinlich für ihn selbst.
Rühl hörte aus dem Aufenthaltsraum Lachen und das Klirren einer zerberstenden Bierflasche, dann dröhnte die Stimme seiner Kollegin, ein kräftiger, tiefer, Alt, fast schon Tenor. Danach war Ruhe. Sie hatten verabredet, dass sie sich die nächtliche Aufsicht teilten, nur im äußersten Notfall würde man sich gegenseitig zu Hilfe rufen. Rühl schlief ein.
Beim Frühstück stieß er, als er sich an der Theke ein zweites Kännchen Kaffee holte, beinahe mit N. zusammen, die einen Teller mit Käse und Marmelade trug. N. lächelte ihn an.
Rühl sagte: »Vielen Dank, Sie wissen schon, wofür, das hat mich sehr gefreut.« N. antwortete: »Ich mag Sie, weil Sie kein Angeber sind. Sie durchschauen diese ganze Scheiße. Sie stehen über den Dingen.«
Rühl spürte, dass er rot wurde. Außerdem bemerkte er, dass sie, nur zwei oder drei Meter entfernt, von Doubek beobachtet wurden. Vielleicht hatte Doubek ihren Dialog mitgehört. Rühl sagte: »Das ist schön«, und ging. Stand er über den Dingen? So hatte er es noch nie betrachtet. Ja. Eigentlich stimmte es.
Am Vormittag fuhren sie mit einem Reisebus nach Koblenz, zum Deutschen Eck, nachmittags trugen die Schüler ein Tischtennisturnier aus. Doubek siegte. N. gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die sich nicht für Tischtennis interessierten und eine kleine Wanderung hinunter zum Rheinufer unternahmen, begleitet von der Kollegin. Rühl versuchte, über den Dingen zu stehen.
Beim Abendessen setzten sich N. und ein anderes Mädchen an Rühls Tisch, vorher fragten sie um Erlaubnis. Rühls Kollegin lud sie mit einer Handbewegung ein, kein Problem, gerne. Rühl sprach mehr als üblich. Später, als die Schüler sich in den Burghof setzten, redeten, lachten und heimlich Bier tranken, holte Rühl sich aus seinem Zimmer ein Buch, setzte sich auf eine Treppe, von der aus er die Schüler im Blick hatte, und las. N. sprach mit dem Mädchen, das mit ihr...
Rühls Unterricht war beliebt. Er hörte das von Kollegen. Stolz war er darauf nicht, seiner Ansicht nach war er kein guter Lehrer. Die Schüler wurden von ihm in Ruhe gelassen, das mochten sie. Er ging in das Klassenzimmer, grüßte, setzte sich und sprach nahezu die gesamten fünfundvierzig Minuten lang. Nur selten stellte er eine Frage. Während er redete, malte er auf einem Blatt Papier, das vor ihm lag, geometrische Figuren. In der ersten Stunde hatte er gesagt: »Sie können mir zuhören, Sie können es auch lassen. Wenn Sie während des Unterrichts etwas anderes tun möchten, setzen Sie sich bitte nach hinten und versuchen Sie, leise zu sein.«
Rühl trug immer einen Anzug. Er sprach halblaut, sodass er nur in den ersten Reihen gut zu verstehen war. Die meisten Schüler lasen, machten Hausaufgaben für andere Fächer oder unterhielten sich. Wenn ihm das Gesumm der Gespräche zu laut wurde, verstummte Rühl für einige Minuten, er stand dann auf, ging zum Fenster und schaute hinaus, bis es ruhiger geworden war.
Zu dieser Zeit behandelte er Kleist, einen Dichter, den er heimlich verachtete, nicht wegen seines Werkes, das natürlich hochrespektabel war, sondern wegen seines theatralischen Endes. Heinrich von Kleists Selbstmord am Wannsee, mit dem er die Welt und seine große Liebe zu beeindrucken versuchte - nun, das war dumm, aber letztlich seine Sache. Kleist hatte allerdings eine junge Frau, Henriette Vogel, die er noch gar nicht lange kannte, dazu überredet, mit ihm in den Tod zu gehen. Diese Frau war verheiratet, hatte ein Kind, war allerdings schwer krank und dementsprechend verzweifelt, das ideale Opfer für einen Romantiker, der Blut sehen will. Kleist hatte zuerst Henriette Vogel erschossen, dann erst Hand an sich selber gelegt. Henriette Vogel war eine Geisel, die hingerichtet wurde, um die Welt zur Hochachtung für einen überspannten Literaten zu erpressen. Starke Gefühle und Revolutionen führten nach Rühls Ansicht im Allgemeinen zum gleichen Ergebnis, Terror und Unglück.
Wer kann schon die Grenze ziehen zwischen sogenannter Liebe und Narzissmus? Sicher ist bei so etwas nur, dass es Verluste gibt, der Gewinn ist ungewiss.
In Rühls Roman sollte es um ein Paar gehen, das zu Beginn leidenschaftlich verliebt und vollkommen unglücklich ist, am Ende sollten sie einander gleichgültig und hochzufrieden sein.
Die Liebe, das war natürlich etwas, das fast alle anstreben, eine Utopie, ein Ideal. Rühl hatte vor, dieses Phänomen mit anderen Utopien und Idealen zu vergleichen, dem Sozialismus, dem Frieden, dem Wohlstand für alle. Diese Ziele klangen alle gut und entfalteten trotzdem in der Regel eine destruktive Wirkung, wenn man sie zu ernst nahm. Viel weiter war er mit seinen Überlegungen noch nicht gekommen.
Der Klassenfahrt sah Rühl mit bösen Ahnungen entgegen. Die Schüler würden abends in ihren Zimmern trinken und feiern, von ihm würde man erwarten, dass er auf die Einhaltung der Regeln bestand. Er würde laut werden müssen und dabei lächerlich wirken, vielleicht würde er auch den Dingen ihren Lauf lassen und hinterher von den Eltern und dem Direktor mit Vorwürfen überzogen werden. Ein erfreulicher Verlauf der Klassenfahrt lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Die zweite Begleitperson, eine Kollegin kurz vor der Pensionsgrenze, Sport und Biologie, war zum Glück eine resolute Person, auf ihr ruhten Rühls ganze Hoffnungen.
Sie fuhren zu einer Burg am Rhein, die zu einem Begegnungszentrum und Schullandheim ausgebaut worden war. Am ersten Nachmittag besichtigten sie ein römisches Kastell, was die Schüler mit erwartungsfroher Gelassenheit über sich ergehen ließen. Der Rest des Tages war mit der Verteilung der Betten in den Zimmern ausgefüllt, ein stundenlanges Hin und Her, Geschrei, Palaver. Zwei- oder dreimal wurde Rühl gebeten, einen Streit zu schlichten, aber er zuckte nur mit den Achseln. Entweder wurde so etwas von den Lehrern entschieden, oder die Schüler organisierten es selber. Darum hatten sie gebeten, er hatte zugestimmt, was wollten sie jetzt von ihm.
Beim Abendessen saßen die Kollegin und er an einem separaten Tisch. Die Herbergseltern trugen Wurst, Käse und Mixed Pickles auf.
Rühl hätte gern ein Bier getrunken. Aber er wollte kein schlechtes Beispiel geben, also holte er sich eine Flasche Zitronenlimonade und trug seinen Namen in die Liste ein, die neben den Getränkekisten an der Wand klebte. Vier Tage sollte der Aufenthalt dauern, bis zum Donnerstag. Rühl hatte, um nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geschickt zu werden, als sehr junger Mensch vier Tage in einem Luftschutzbunker verbracht, angeblich verletzt, mit einem dicken Kopfverband, ohne Toilette, das habe ich auch überstanden, sagte er sich. Den Freitag würde er zum Glück frei haben. Er nahm sich vor, Sybille Bär anzurufen und sich für den Freitagabend mit ihr zu verabreden.
Als er in sein Zimmer eintrat, eigentlich eher eine Kammer, am Ende des Ganges, sah er, dass auf seinem Bett ein Päckchen lag. Es war etwas kleiner als eine Schokoladentafel und sehr bunt. Auf dem Papier klebten bunte Prilblumen. Das Päckchen enthielt eine Musikkassette und einen Brief.
»Lieber Dr. Rühl! Ich hoffe, die Musik gefällt Ihnen. Seien Sie nicht böse. Sie sind mein Lieblingslehrer. Es war an der Zeit, dass ich auch einmal etwas für Sie tue. N.«
In den beiden Klassen gab es nur zwei Mädchen, deren Vornamen mit einem »N« begannen, eine Schüchterne, Unscheinbare, Dämliche und eine gazellenhafte, ständig von Jungs umschwärmte Schönheit, obendrein die beste Schülerin des Jahrgangs. Dies hier passte wohl eher zu dem dämlichen Exemplar. Trotzdem war Rühl sicher, dass seine Verehrerin die schöne, kluge N. aus der Unterprima B war. Diese N. gehörte zu der Handvoll Schüler, die bei ihm immer in den vorderen Reihen saßen und ihm, bis auf Doubek, konzentriert zuhörten. Kein Wunder, N. war ehrgeizig und stand fast überall auf eins, auch bei Rühl. Neben ihr saßen meistens ein gewisser Benno, unauffällig, faul, aber nicht dumm, und der bei allen Kollegen gefürchtete Doubek, renitent, laut, bösartig, demnächst hoffentlich zum zweiten Mal sitzen geblieben und von der Schule verwiesen. Wenn N. in der Nähe war, betrug Doubek sich allerdings fast mustergültig, in Rühls Stunden tat er so, als lese er in den Schriften von Mao Tsetung. Beide Jungen waren so offensichtlich in N. verliebt, dass sogar Rühl es bemerkte.
Der Brief war, wenn man einmal darüber nachdachte, harmlos. Die Abkürzung des Namens, nun, das war ein romantisches Klischee, bei Kleist findet sich das auch, die Marquise von O., eigentlich gab nur dieses Detail dem kleinen Brief eine frivole Note. War es verboten, Geschenke von Schülern entgegenzunehmen? Das hing wahrscheinlich vom Wert des Geschenks ab. Rühl beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wahrscheinlich tat er damit sogar das pädagogisch Richtige. Die Kassette zurückzugeben wäre ein pathetischer Akt gewesen, demütigend für die Schülerin, peinlich für ihn selbst.
Rühl hörte aus dem Aufenthaltsraum Lachen und das Klirren einer zerberstenden Bierflasche, dann dröhnte die Stimme seiner Kollegin, ein kräftiger, tiefer, Alt, fast schon Tenor. Danach war Ruhe. Sie hatten verabredet, dass sie sich die nächtliche Aufsicht teilten, nur im äußersten Notfall würde man sich gegenseitig zu Hilfe rufen. Rühl schlief ein.
Beim Frühstück stieß er, als er sich an der Theke ein zweites Kännchen Kaffee holte, beinahe mit N. zusammen, die einen Teller mit Käse und Marmelade trug. N. lächelte ihn an.
Rühl sagte: »Vielen Dank, Sie wissen schon, wofür, das hat mich sehr gefreut.« N. antwortete: »Ich mag Sie, weil Sie kein Angeber sind. Sie durchschauen diese ganze Scheiße. Sie stehen über den Dingen.«
Rühl spürte, dass er rot wurde. Außerdem bemerkte er, dass sie, nur zwei oder drei Meter entfernt, von Doubek beobachtet wurden. Vielleicht hatte Doubek ihren Dialog mitgehört. Rühl sagte: »Das ist schön«, und ging. Stand er über den Dingen? So hatte er es noch nie betrachtet. Ja. Eigentlich stimmte es.
Am Vormittag fuhren sie mit einem Reisebus nach Koblenz, zum Deutschen Eck, nachmittags trugen die Schüler ein Tischtennisturnier aus. Doubek siegte. N. gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die sich nicht für Tischtennis interessierten und eine kleine Wanderung hinunter zum Rheinufer unternahmen, begleitet von der Kollegin. Rühl versuchte, über den Dingen zu stehen.
Beim Abendessen setzten sich N. und ein anderes Mädchen an Rühls Tisch, vorher fragten sie um Erlaubnis. Rühls Kollegin lud sie mit einer Handbewegung ein, kein Problem, gerne. Rühl sprach mehr als üblich. Später, als die Schüler sich in den Burghof setzten, redeten, lachten und heimlich Bier tranken, holte Rühl sich aus seinem Zimmer ein Buch, setzte sich auf eine Treppe, von der aus er die Schüler im Blick hatte, und las. N. sprach mit dem Mädchen, das mit ihr...
Details
Erscheinungsjahr: | 2010 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 224 S. |
ISBN-13: | 9783570100066 |
ISBN-10: | 3570100065 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Martenstein, Harald |
bertelsmann, c. verlag: | Bertelsmann, C. Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 220 x 142 x 23 mm |
Von/Mit: | Harald Martenstein |
Erscheinungsdatum: | 30.08.2010 |
Gewicht: | 0,418 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2010 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Buch |
Inhalt: | 224 S. |
ISBN-13: | 9783570100066 |
ISBN-10: | 3570100065 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Martenstein, Harald |
bertelsmann, c. verlag: | Bertelsmann, C. Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 220 x 142 x 23 mm |
Von/Mit: | Harald Martenstein |
Erscheinungsdatum: | 30.08.2010 |
Gewicht: | 0,418 kg |
Warnhinweis