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'Maggie O'Farrell ist eine absolute Ausnahmeerscheinung.' The Guardian Agnes sieht ihn und weiß: Das wird er sein. Dabei ist der schmächtige Lateinlehrer aus Stratford-upon-Avon noch nicht einmal achtzehn. Egal, besser, sie küsst ihn schnell. Besser, sie erwartet ein Kind, bevor ihr einer die Heirat verbieten kann. Vierzehn Jahre später sind es drei Kinder geworden. Doch wie sollen sie auskommen, solange ihr Mann wer weiß was mit diesen Theaterstücken treibt? Er ist in London, als Agnes im Blick ihres Sohnes den Schwarzen Tod erkennt. 'Einer der berührendsten Romane, den ich seit Jahrzehnten gelesen habe.' Mariella Frostrup, BBC Radio 4
'Maggie O'Farrell ist eine absolute Ausnahmeerscheinung.' The Guardian Agnes sieht ihn und weiß: Das wird er sein. Dabei ist der schmächtige Lateinlehrer aus Stratford-upon-Avon noch nicht einmal achtzehn. Egal, besser, sie küsst ihn schnell. Besser, sie erwartet ein Kind, bevor ihr einer die Heirat verbieten kann. Vierzehn Jahre später sind es drei Kinder geworden. Doch wie sollen sie auskommen, solange ihr Mann wer weiß was mit diesen Theaterstücken treibt? Er ist in London, als Agnes im Blick ihres Sohnes den Schwarzen Tod erkennt. 'Einer der berührendsten Romane, den ich seit Jahrzehnten gelesen habe.' Mariella Frostrup, BBC Radio 4
»Ein Buch wie ein schimmerndes Wunder.« David Mitchell
I
Ein Junge kommt eine Treppe herunter.
Der Abgang ist schmal und macht einen scharfen Knick. Der Junge nimmt, indem er sich an der Wand entlangschiebt, eine Stufe nach der anderen mit polternden Stiefelschritten.
Beinahe am Fuß der Treppe hält er kurz inne und schielt noch einmal über die Schulter hinauf, ehe er kurz entschlossen die letzten drei Stufen überspringt, wie er es immer tut. Beim Aufkommen stolpert er und schlägt mit den Knien auf dem Steinfußboden auf.
Es ist ein drückender, windstiller Tag im Spätsommer. Lange Bahnen aus Licht fallen durch das Zimmer im Erdgeschoss, und von draußen brennt die Sonne herein, sodass die Fenster wie vergitterte Platten Gelb im Putz leuchten.
Er steht auf und reibt sich die Knie. Blickt hierhin, die Treppe hoch. Blickt dorthin, ratlos, welchen Weg er einschlagen soll.
Das Zimmer ist leer. Nur das Feuer schwelt auf seinem Rost vor sich hin, orangefarbene Glut unter zart aufsteigenden Rauchspiralen. Die wunden Knie des Jungen pochen im Takt seines Herzschlags. Er verharrt mit einer Hand auf dem Riegel der Treppentür, die verschrammte lederne Spitze seines Stiefels in der Luft, bereit zum Sprung, zur Flucht. Seine hellen, beinahe goldenen Haare stehen ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab.
Es ist niemand da.
Er seufzt, atmet tief die warme, staubige Luft ein und geht durchs Zimmer zur Haustür und auf die Straße hinaus. Vom Lärm der Wagen, Pferde, Händler und anderen Menschen, die einander zurufen, von einem Mann, der einen Sack aus dem ersten Stock wirft, bekommt er nichts mit. Der Junge schlendert am Haus entlang und in den nächsten Eingang hinein.
Bei seinen Großeltern riecht es nach der ewig gleichen Mischung aus Holzrauch, Politur, Leder und Wolle, ähnlich und doch auf unbestimmbare Weise anders als in dem angrenzenden Zweizimmerhäuschen, das sein Großvater in eine schmale Lücke neben das größere Haus gebaut hat. Dort wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Manchmal wundert er sich darüber, schließlich sind die beiden Wohnungen nur durch eine dünne Flechtwand getrennt, und trotzdem hat die Luft hier eine andere Note, einen anderen Geruch und eine andere Temperatur.
In diesem Haus pfeift es förmlich, so quirlig ist der Durchzug, so laut das Klopfen und Hämmern aus der Werkstatt seines Großvaters, das Pochen und Rufen der Kunden am Fenster, das lärmende Treiben auf dem Hinterhof, das Kommen und Gehen seiner Onkel.
Doch heute nicht. Der Junge steht im Durchgang und lauscht auf ein Lebenszeichen. Von hier aus kann er erkennen, dass die Werkstatt zu seiner Rechten leer ist. Die Hocker an den Werkbänken sind verwaist, die Werkzeuge liegen unbenutzt da, während die Handschuhe auf der Ablage daneben aussehen wie absichtlich hinterlassene Handabdrücke. Das Verkaufsfenster ist geschlossen und fest verriegelt. Niemand ist im Speisezimmer zu seiner Linken. Auf dem langen Tisch ein Stoß Servietten, eine unangezündete Kerze, ein Haufen Federn. Mehr nicht.
Aus seiner Kehle dringt ein Ruf, ein fragendes Geräusch. Einmal, zweimal gibt er diesen Laut von sich und wartet mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort.
Nichts. Nur das Knarren von Holzbalken, die sich sanft in der Sonne ausdehnen, das Seufzen eines Lufthauchs unter Türen und von Zimmer zu Zimmer, das Wispern von Leintüchern, das Knacken des Feuers, die unbestimmbaren Geräusche eines Hauses, das im Stillstand ist, leer.
Seine Finger krampfen sich um das Eisen der Türklinke. Die Hitze des Tages treibt ihm selbst jetzt noch den Schweiß auf die Stirn und den Rücken hinunter. Der Schmerz in seinen Knien wird stärker, stechend und verfliegt wieder.
Der Junge öffnet den Mund. Einen nach dem andern ruft er die Namen aller, die hier wohnen. Seine Großmutter. Die Magd. Seine Onkel. Seine Tante. Den Lehrling. Seinen Großvater. Der Junge probiert sie nacheinander durch, und kurz kommt ihm sogar der Gedanke, seinen Vater zu rufen, nach ihm zu schreien, doch der Vater ist Meilen und Stunden und Tage weit weg in London, wo der Junge noch nie war.
Aber wo, fragt er sich, sind seine Mutter, seine große Schwester, seine Großmutter, seine Onkel? Wo ist die Magd? Wo sein Großvater, der tagsüber eigentlich immer zu Hause ist und für gewöhnlich in der Werkstatt dabei anzutreffen, wie er seinen Lehrling schikaniert oder seine Einnahmen notiert? Wo sind denn alle? Wie können nur beide Häuser leer sein?
Der Junge wandert den Durchgang entlang. An der Tür zur Werkstatt bleibt er stehen und wirft einen prüfenden Blick über die Schulter, ehe er eintritt.
Die Handschuhwerkstatt seines Großvaters darf er nur sehr selten betreten. Es ist sogar verboten, in der Tür haltzumachen. »Steh da nicht bloß untätig herum«, brüllt sein Großvater dann. »Kann ein Mensch nicht mal ein ehrliches Stück Arbeit verrichten, ohne dass die Leute stehen bleiben und ihn angaffen? Hast du nichts Besseres zu tun, als da herumzulungern und Maulaffen feilzuhalten?«
Hamnet hat einen raschen Verstand: Dem Schulunterricht kann er mühelos folgen. Er erfasst Sinn und Logik dessen, was ihm gesagt wird, und er kann sich Dinge ohne Weiteres einprägen. Verben und Grammatik und Zeitformen und Rhetorik und Zahlen und Rechenergebnisse kann er sich so leicht ins Gedächtnis rufen, dass dies gelegentlich den Neid der anderen Jungen weckt. Ebenso leicht lässt er sich aber auch ablenken. Ein Karren, der während einer Griechischstunde auf der Straße vorbeifährt, lässt seine Gedanken unweigerlich von der Schiefertafel abschweifen. Er grübelt, wohin der Karren wohl unterwegs und mit was er beladen sein könnte, und dann das eine Mal, als sein Onkel ihn und seine Schwestern auf einem Heuwagen mitgenommen hatte, wie wunderbar das war, wie das frisch geschnittene Heu duftete und pikste und die Räder zum müden Hufschlag vorwärtsruckelten. Mehr als zweimal ist er in den letzten Wochen gezüchtigt worden, weil er nicht aufgepasst hatte (und die Großmutter hat gesagt, wenn das noch einmal, nur ein einziges Mal, vorkomme, würde sie seinen Vater verständigen). Die Lehrer können sich keinen Reim darauf machen. Hamnet lernt schnell und kann aus dem Gedächtnis zitieren, aber mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache bleiben.
Beim Kreischen eines Vogels in der Luft kann er mitten im Satz abbrechen, als hätte es ihm aus heiterem Himmel die Sprache verschlagen. Sieht er aus dem Augenwinkel jemanden ins Zimmer kommen, kann er alles stehen und liegen lassen - essen, lesen, seine Schularbeiten -, und demjenigen entgegensehen, als sei er herbeigeeilt, um ihm eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er neigt dazu, sich der wirklichen, greifbaren Welt um sich herum zu entziehen. Körperlich ist er zwar noch anwesend, gedanklich aber woanders, jemand anderes, an einem Ort, den nur er selbst kennt. »Wach auf, Kind«, schreit seine Großmutter dann und schnalzt mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück«, zischt seine große Schwester Susanna und schnippt ihm gegens Ohr. »Pass endlich auf«, brüllen seine Lehrer. »Wohin bist du gegangen?«, flüstert Judith ihm zu, wenn er schließlich wieder im Hier und Jetzt aufwacht, sich blinzelnd umsieht und feststellt, dass er zurück ist, zu Hause, am Tisch im Kreis der Familie, und seine Mutter ihn verschmitzt ansieht, als wüsste sie ganz genau, wo er gewesen ist.
Genau so ist Hamnet, als er jetzt das verbotene Reich der Handschuhwerkstatt betritt, entfallen, wozu er eigentlich hergekommen ist. Für einen Moment ist alles wie weggewischt - dass es Judith nicht gut geht und jemand nach ihr sehen muss, dass er ihre Mutter oder Großmutter oder irgendwen finden muss, der vielleicht weiß, was zu tun ist.
Von einer Stange hängen Felle herab. Hamnet kennt sich gut genug aus, um den rostroten getupften Balg eines Hirsches zu erkennen, das feine, schmiegsame Ziegenleder, die kleineren Felle von Eichhörnchen, die grobe, borstige Wildschweinhaut. Als er näher tritt, geht durch die Felle ein Rascheln und Raunen, gerade so, als könnte noch ein Fünkchen Leben in ihnen stecken, genug, um ihn zu hören. Hamnet streckt einen Finger aus und berührt die Ziegenhaut. Sie fühlt sich so unerfindlich weich an, wie Flussalgen, die an seinen Beinen entlangstreichen, wenn er an heißen Tagen schwimmen geht. Die Haut schwingt sanft hin und her, die Beine wie im Flug gespreizt, einem Vogel ähnlich oder einem Ghul.
Hamnet dreht sich um und betrachtet die zwei Arbeitsplätze an der Werkbank: den gepolsterten aus Leder, glatt gescheuert von den Kniebundhosen seines Großvaters, und den harten Holzhocker für Ned, den Lehrling. An der Wand darüber hängen die Werkzeuge. Er weiß genau, welche zum Schneiden, zum Dehnen, welche zum Stecken und Nähen sind. Aber der schmalere der beiden Handschuhstrecker - der für Frauen - ist nicht an seinem Platz. Er liegt auf dem Tisch, an dem Ned sonst mit gesenktem Kopf, gebeugten Schultern und eifrigen, flinken Fingern arbeitet. Hamnet weiß, dass sein Großvater den Jungen schon beim geringsten Anlass anbrüllt - oder Schlimmeres -, deshalb nimmt er den Handschuhstrecker, wiegt das warme Holz kurz in der Hand und hängt ihn dann an seinen Haken zurück.
Gerade als er die Schublade herausziehen will, in der die Garnknäuel und die Knopfschachteln aufbewahrt werden - sachte, sachte, weil er weiß, dass die Lade quietscht -, dringt ein Geräusch, ein leises Scharren oder Knarzen, an sein Ohr.
In Sekundenschnelle ist Hamnet im Durchgang und draußen auf dem Hof. Seine Aufgabe fällt ihm wieder ein. Was macht er da nur? Trödelt in der Werkstatt, während seine Schwester leidet - er muss Hilfe holen.
Eine nach der anderen reißt er die Tür zum Küchenhaus, zum Sudhaus, zur Waschküche auf. Allesamt leer, dunkel und kühl. Er ruft noch einmal, ein wenig heiser jetzt, der Hals kratzt ihm schon vom Schreien. Er lehnt sich an die Mauer des Küchenhauses und befördert eine Nussschale mit einem Tritt quer über den Hof. Er weiß weder ein noch aus....
Erscheinungsjahr: | 2020 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Originaltitel: | Hamnet |
Inhalt: | 416 S. |
ISBN-13: | 9783492070362 |
ISBN-10: | 3492070361 |
Sprache: | Deutsch |
Originalsprache: | Englisch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | O'Farrell, Maggie |
Übersetzung: | Mittag, Anne-Kristin |
Hersteller: | Piper Verlag GmbH |
Maße: | 129 x 204 x 40 mm |
Von/Mit: | Maggie O'Farrell |
Erscheinungsdatum: | 14.09.2020 |
Gewicht: | 0,538 kg |
»Ein Buch wie ein schimmerndes Wunder.« David Mitchell
I
Ein Junge kommt eine Treppe herunter.
Der Abgang ist schmal und macht einen scharfen Knick. Der Junge nimmt, indem er sich an der Wand entlangschiebt, eine Stufe nach der anderen mit polternden Stiefelschritten.
Beinahe am Fuß der Treppe hält er kurz inne und schielt noch einmal über die Schulter hinauf, ehe er kurz entschlossen die letzten drei Stufen überspringt, wie er es immer tut. Beim Aufkommen stolpert er und schlägt mit den Knien auf dem Steinfußboden auf.
Es ist ein drückender, windstiller Tag im Spätsommer. Lange Bahnen aus Licht fallen durch das Zimmer im Erdgeschoss, und von draußen brennt die Sonne herein, sodass die Fenster wie vergitterte Platten Gelb im Putz leuchten.
Er steht auf und reibt sich die Knie. Blickt hierhin, die Treppe hoch. Blickt dorthin, ratlos, welchen Weg er einschlagen soll.
Das Zimmer ist leer. Nur das Feuer schwelt auf seinem Rost vor sich hin, orangefarbene Glut unter zart aufsteigenden Rauchspiralen. Die wunden Knie des Jungen pochen im Takt seines Herzschlags. Er verharrt mit einer Hand auf dem Riegel der Treppentür, die verschrammte lederne Spitze seines Stiefels in der Luft, bereit zum Sprung, zur Flucht. Seine hellen, beinahe goldenen Haare stehen ihm in kleinen Büscheln vom Kopf ab.
Es ist niemand da.
Er seufzt, atmet tief die warme, staubige Luft ein und geht durchs Zimmer zur Haustür und auf die Straße hinaus. Vom Lärm der Wagen, Pferde, Händler und anderen Menschen, die einander zurufen, von einem Mann, der einen Sack aus dem ersten Stock wirft, bekommt er nichts mit. Der Junge schlendert am Haus entlang und in den nächsten Eingang hinein.
Bei seinen Großeltern riecht es nach der ewig gleichen Mischung aus Holzrauch, Politur, Leder und Wolle, ähnlich und doch auf unbestimmbare Weise anders als in dem angrenzenden Zweizimmerhäuschen, das sein Großvater in eine schmale Lücke neben das größere Haus gebaut hat. Dort wohnt der Junge mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Manchmal wundert er sich darüber, schließlich sind die beiden Wohnungen nur durch eine dünne Flechtwand getrennt, und trotzdem hat die Luft hier eine andere Note, einen anderen Geruch und eine andere Temperatur.
In diesem Haus pfeift es förmlich, so quirlig ist der Durchzug, so laut das Klopfen und Hämmern aus der Werkstatt seines Großvaters, das Pochen und Rufen der Kunden am Fenster, das lärmende Treiben auf dem Hinterhof, das Kommen und Gehen seiner Onkel.
Doch heute nicht. Der Junge steht im Durchgang und lauscht auf ein Lebenszeichen. Von hier aus kann er erkennen, dass die Werkstatt zu seiner Rechten leer ist. Die Hocker an den Werkbänken sind verwaist, die Werkzeuge liegen unbenutzt da, während die Handschuhe auf der Ablage daneben aussehen wie absichtlich hinterlassene Handabdrücke. Das Verkaufsfenster ist geschlossen und fest verriegelt. Niemand ist im Speisezimmer zu seiner Linken. Auf dem langen Tisch ein Stoß Servietten, eine unangezündete Kerze, ein Haufen Federn. Mehr nicht.
Aus seiner Kehle dringt ein Ruf, ein fragendes Geräusch. Einmal, zweimal gibt er diesen Laut von sich und wartet mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort.
Nichts. Nur das Knarren von Holzbalken, die sich sanft in der Sonne ausdehnen, das Seufzen eines Lufthauchs unter Türen und von Zimmer zu Zimmer, das Wispern von Leintüchern, das Knacken des Feuers, die unbestimmbaren Geräusche eines Hauses, das im Stillstand ist, leer.
Seine Finger krampfen sich um das Eisen der Türklinke. Die Hitze des Tages treibt ihm selbst jetzt noch den Schweiß auf die Stirn und den Rücken hinunter. Der Schmerz in seinen Knien wird stärker, stechend und verfliegt wieder.
Der Junge öffnet den Mund. Einen nach dem andern ruft er die Namen aller, die hier wohnen. Seine Großmutter. Die Magd. Seine Onkel. Seine Tante. Den Lehrling. Seinen Großvater. Der Junge probiert sie nacheinander durch, und kurz kommt ihm sogar der Gedanke, seinen Vater zu rufen, nach ihm zu schreien, doch der Vater ist Meilen und Stunden und Tage weit weg in London, wo der Junge noch nie war.
Aber wo, fragt er sich, sind seine Mutter, seine große Schwester, seine Großmutter, seine Onkel? Wo ist die Magd? Wo sein Großvater, der tagsüber eigentlich immer zu Hause ist und für gewöhnlich in der Werkstatt dabei anzutreffen, wie er seinen Lehrling schikaniert oder seine Einnahmen notiert? Wo sind denn alle? Wie können nur beide Häuser leer sein?
Der Junge wandert den Durchgang entlang. An der Tür zur Werkstatt bleibt er stehen und wirft einen prüfenden Blick über die Schulter, ehe er eintritt.
Die Handschuhwerkstatt seines Großvaters darf er nur sehr selten betreten. Es ist sogar verboten, in der Tür haltzumachen. »Steh da nicht bloß untätig herum«, brüllt sein Großvater dann. »Kann ein Mensch nicht mal ein ehrliches Stück Arbeit verrichten, ohne dass die Leute stehen bleiben und ihn angaffen? Hast du nichts Besseres zu tun, als da herumzulungern und Maulaffen feilzuhalten?«
Hamnet hat einen raschen Verstand: Dem Schulunterricht kann er mühelos folgen. Er erfasst Sinn und Logik dessen, was ihm gesagt wird, und er kann sich Dinge ohne Weiteres einprägen. Verben und Grammatik und Zeitformen und Rhetorik und Zahlen und Rechenergebnisse kann er sich so leicht ins Gedächtnis rufen, dass dies gelegentlich den Neid der anderen Jungen weckt. Ebenso leicht lässt er sich aber auch ablenken. Ein Karren, der während einer Griechischstunde auf der Straße vorbeifährt, lässt seine Gedanken unweigerlich von der Schiefertafel abschweifen. Er grübelt, wohin der Karren wohl unterwegs und mit was er beladen sein könnte, und dann das eine Mal, als sein Onkel ihn und seine Schwestern auf einem Heuwagen mitgenommen hatte, wie wunderbar das war, wie das frisch geschnittene Heu duftete und pikste und die Räder zum müden Hufschlag vorwärtsruckelten. Mehr als zweimal ist er in den letzten Wochen gezüchtigt worden, weil er nicht aufgepasst hatte (und die Großmutter hat gesagt, wenn das noch einmal, nur ein einziges Mal, vorkomme, würde sie seinen Vater verständigen). Die Lehrer können sich keinen Reim darauf machen. Hamnet lernt schnell und kann aus dem Gedächtnis zitieren, aber mit dem Kopf einfach nicht bei der Sache bleiben.
Beim Kreischen eines Vogels in der Luft kann er mitten im Satz abbrechen, als hätte es ihm aus heiterem Himmel die Sprache verschlagen. Sieht er aus dem Augenwinkel jemanden ins Zimmer kommen, kann er alles stehen und liegen lassen - essen, lesen, seine Schularbeiten -, und demjenigen entgegensehen, als sei er herbeigeeilt, um ihm eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er neigt dazu, sich der wirklichen, greifbaren Welt um sich herum zu entziehen. Körperlich ist er zwar noch anwesend, gedanklich aber woanders, jemand anderes, an einem Ort, den nur er selbst kennt. »Wach auf, Kind«, schreit seine Großmutter dann und schnalzt mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück«, zischt seine große Schwester Susanna und schnippt ihm gegens Ohr. »Pass endlich auf«, brüllen seine Lehrer. »Wohin bist du gegangen?«, flüstert Judith ihm zu, wenn er schließlich wieder im Hier und Jetzt aufwacht, sich blinzelnd umsieht und feststellt, dass er zurück ist, zu Hause, am Tisch im Kreis der Familie, und seine Mutter ihn verschmitzt ansieht, als wüsste sie ganz genau, wo er gewesen ist.
Genau so ist Hamnet, als er jetzt das verbotene Reich der Handschuhwerkstatt betritt, entfallen, wozu er eigentlich hergekommen ist. Für einen Moment ist alles wie weggewischt - dass es Judith nicht gut geht und jemand nach ihr sehen muss, dass er ihre Mutter oder Großmutter oder irgendwen finden muss, der vielleicht weiß, was zu tun ist.
Von einer Stange hängen Felle herab. Hamnet kennt sich gut genug aus, um den rostroten getupften Balg eines Hirsches zu erkennen, das feine, schmiegsame Ziegenleder, die kleineren Felle von Eichhörnchen, die grobe, borstige Wildschweinhaut. Als er näher tritt, geht durch die Felle ein Rascheln und Raunen, gerade so, als könnte noch ein Fünkchen Leben in ihnen stecken, genug, um ihn zu hören. Hamnet streckt einen Finger aus und berührt die Ziegenhaut. Sie fühlt sich so unerfindlich weich an, wie Flussalgen, die an seinen Beinen entlangstreichen, wenn er an heißen Tagen schwimmen geht. Die Haut schwingt sanft hin und her, die Beine wie im Flug gespreizt, einem Vogel ähnlich oder einem Ghul.
Hamnet dreht sich um und betrachtet die zwei Arbeitsplätze an der Werkbank: den gepolsterten aus Leder, glatt gescheuert von den Kniebundhosen seines Großvaters, und den harten Holzhocker für Ned, den Lehrling. An der Wand darüber hängen die Werkzeuge. Er weiß genau, welche zum Schneiden, zum Dehnen, welche zum Stecken und Nähen sind. Aber der schmalere der beiden Handschuhstrecker - der für Frauen - ist nicht an seinem Platz. Er liegt auf dem Tisch, an dem Ned sonst mit gesenktem Kopf, gebeugten Schultern und eifrigen, flinken Fingern arbeitet. Hamnet weiß, dass sein Großvater den Jungen schon beim geringsten Anlass anbrüllt - oder Schlimmeres -, deshalb nimmt er den Handschuhstrecker, wiegt das warme Holz kurz in der Hand und hängt ihn dann an seinen Haken zurück.
Gerade als er die Schublade herausziehen will, in der die Garnknäuel und die Knopfschachteln aufbewahrt werden - sachte, sachte, weil er weiß, dass die Lade quietscht -, dringt ein Geräusch, ein leises Scharren oder Knarzen, an sein Ohr.
In Sekundenschnelle ist Hamnet im Durchgang und draußen auf dem Hof. Seine Aufgabe fällt ihm wieder ein. Was macht er da nur? Trödelt in der Werkstatt, während seine Schwester leidet - er muss Hilfe holen.
Eine nach der anderen reißt er die Tür zum Küchenhaus, zum Sudhaus, zur Waschküche auf. Allesamt leer, dunkel und kühl. Er ruft noch einmal, ein wenig heiser jetzt, der Hals kratzt ihm schon vom Schreien. Er lehnt sich an die Mauer des Küchenhauses und befördert eine Nussschale mit einem Tritt quer über den Hof. Er weiß weder ein noch aus....
Erscheinungsjahr: | 2020 |
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Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Taschenbuch |
Originaltitel: | Hamnet |
Inhalt: | 416 S. |
ISBN-13: | 9783492070362 |
ISBN-10: | 3492070361 |
Sprache: | Deutsch |
Originalsprache: | Englisch |
Einband: | Kartoniert / Broschiert |
Autor: | O'Farrell, Maggie |
Übersetzung: | Mittag, Anne-Kristin |
Hersteller: | Piper Verlag GmbH |
Maße: | 129 x 204 x 40 mm |
Von/Mit: | Maggie O'Farrell |
Erscheinungsdatum: | 14.09.2020 |
Gewicht: | 0,538 kg |