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Beschreibung
Wir tranken einen leichten Punsch, wie er in meiner Jugend in Mode war. Wir saßen vor dem Feuer, meine Cousins Érard, die Kinder und ich. Es war ein Herbstabend, hochrot über den vom Regen durchweichten Sturzäckern; der flammende Sonnenuntergang verhieß für den nächsten Tag starken Wind; die Raben krächzten. In diesem großen eiskalten Haus drang überall Luft herein mitsamt dem herben, fruchtigen Geruch, den sie in dieser Jahreszeit hat. Meine Cousine Hélène und ihre Tochter, Colette, bibberten unter den Kaschmirschals meiner Mutter, die ich ihnen geliehen hatte. Wie immer, wenn sie mich besuchen, fragten sie, wie ich es bloß anstellte, in diesem Rattenloch zu leben, und Colette, die kurz vor ihrer Hochzeit stand, rühmte mir die Reize von Moulin-Neuf, wo sie demnächst wohnen wird und "wo ich Sie oft zu sehen hoffe, Vetter Silvio", sagte sie. Mitleidig sah sie mich an. Ich bin alt, arm, Junggeselle; ich vergrabe mich in einer Bruchbude tief im Wald. Alle wissen, daß ich viel gereist bin und mein Erbe verpraßt habe; als ich, der verlorene Sohn, in meine Heimat zurückgekehrt bin, war sogar das Mastkalb an Altersschwäche gestorben, nachdem es lange vergeblich auf mich gewartet hatte. Meine Cousins Érard, die in Gedanken ihr Los mit dem meinen verglichen, verziehen mir vermutlich das viele Geld, das ich mir von ihnen geliehen hatte, ohne es zurückzugeben, und wiederholten mit Colette:
"Sie leben hier wie ein Wilder, armer Freund. Sie sollten zu der Kleinen kommen, wenn sie sich eingerichtet hat, und die schöne Jahreszeit bei ihr verbringen."
Dabei erlebe ich recht angenehme Momente, auch wenn sie nichts davon ahnen. Heute bin ich allein; der erste Schnee ist gefallen. Dieses Land, im Herzen Frankreichs, ist wild und reich zugleich. Jeder lebt für sich, auf seinem Gut, mißtraut dem Nachbarn, bringt seinen Weizen ein, zählt sein Geld und kümmert sich nicht um den Rest. Keine Schlösser, keine Besichtigungen. Hier herrscht eine Bourgeoisie, die dem Volk noch sehr nahe ist, gerade erst aus ihm hervorgegangen, mit feurigem Blut und allen Gütern der Welt zugetan. Meine Familie überzieht die Provinz mit einem ausgedehnten Netz an Érards, Chapelains, Benoîts, Montrifauts; es sind Großbauern, Notare, Beamte, Grundbesitzer. Ihre stattlichen Häuser liegen isoliert, weit vom Weiler entfernt, und werden von großen abweisenden, dreifach verriegelten Türen geschützt wie von Gefängnistüren, und davor von nüchternen Gärten, in denen fast keine Blumen wachsen: nur Gemüse und Spalierobstbäume, da diese mehr Früchte tragen. Die Wohnstuben sind mit Möbeln vollgestopft und immer geschlossen; man lebt in der Küche, um Brennholz zu sparen. Ich spreche natürlich nicht von François und Hélène Érard; ich kenne keine angenehmere, keine einladendere Wohnung, kein intimeres, fröhlicheres und wärmeres Heim. Trotzdem, für mich kommt nichts einem Abend wie diesem gleich: Es herrscht völlige Einsamkeit; meine Magd, die im Weiler schläft, hat gerade die Hühner eingesperrt und geht nach Hause. Ich höre das Klappern ihrer Holzschuhe auf dem Weg. Mir bleiben meine Pfeife, mein Hund zwischen den Beinen, das Rascheln der Mäuse auf dem Dachboden, das zischende Feuer, keine Zeitungen, keine Bücher, eine Flasche Juliénas, die sich am Kamin sanft erwärmt.
"Warum nennt man Sie Silvio, Vetter?" fragt Colette.
Ich antworte:
"Weil eine schöne Dame, die in mich verliebt war und die fand, daß ich einem Gondoliere ähnelte - denn damals, vor dreißig Jahren, hatte ich einen gezwirbelten Schnurrbart und schwarzes Haar -, meinen Vornamen Sylvester auf diese Art abgeändert hat."
"Aber Sie ähneln doch eher einem Faun", sagte Colette, "mit Ihrer großen Stirn, Ihrer Himmelfahrtsnase, Ihren spitzen Ohren und Ihren lachenden Augen. Sylvester, der Waldmensch. Das paßt sehr gut zu Ihnen."
Von Hélènes Kindern ist mir Colette die liebste. Sie ist nicht schön, hat aber etwas, was ich in meiner Jugend bei Frauen überaus schätzte: Feuer. Ihre Augen lachen, ebenso ihr großer Mund; ihr schwarzes Haar ist duftig und schlüpft in kleinen Locken unter ihrem Schal hervor, mit dem sie ihren Kopf bedeckt hat, da sie behauptet, Zugluft auf ihrem Nacken zu spüren. Man sagt, sie ähnele Hélène, als diese jung war. Aber ich erinnere mich nicht. Seit der Geburt ihres dritten Sohnes, des kleinen Loulou, der jetzt neun Jahre alt ist, hat Hélène stark zugenommen, und die achtundvierzigjährige Frau mit der weichen, welken Haut überdeckt in meiner Erinnerung die zwanzigjährige Hélène, die ich gekannt habe. Jetzt strahlt sie eine glückliche Gelassenheit aus, die beruhigt. Dieser Abend bei mir war ein offizieller Vorstellungsbesuch: Man machte mich mit Colettes Verlobtem bekannt. Es ist Jean Dorin, aus der Familie Dorin von Moulin-Neuf, Mühlenbesitzer vom Vater auf den Sohn. Ein schöner Fluß, grün und schaumbedeckt, fließt zu Füßen dieser Mühle. Als Dorins Vater noch lebte, ging ich dorthin, um Forellen zu angeln.
"Du wirst uns guten Fisch vorsetzen, Colette", sagte ich.
François lehnt meinen Punsch ab: er trinkt nur Wasser. Er hat einen dünnen grauen Spitzbart, den er sanft mit der Hand streichelt. Ich sagte:
"Sie werden die Gesellschaft nicht vermissen, wenn Sie sie verlassen haben, oder vielmehr wenn Sie von ihr verlassen worden sind, wie es bei mir der Fall war..."
Denn manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich vom Leben zurückgeworfen worden wie von einer zu hohen See. Ich bin an einem traurigen Ufer gestrandet, auf einem zwar noch soliden Boot, dessen Farben das Wasser jedoch ausgebleicht und das Salz zerfressen hat.
"... Sie werden nichts vermissen, da Sie ja weder den Wein noch die Jagd, noch die Frauen lieben."
"Ich werde meine Frau vermissen", sagte er lächelnd.
Da setzte sich Colette neben ihre Mutter und fragte:
"Mama, erzähle mir von deiner Verlobung mit Papa. Nie hast du von deiner Hochzeit gesprochen. Warum? Ich weiß nur, daß es eine romantische Geschichte war, daß ihr euch seit langem geliebt habt . Davon hast du mir nie erzählt. Warum?"
"Weil du mich nie darum gebeten hast."
"Aber jetzt bitte ich dich darum."
Hélène wehrte lachend ab:
"Das geht dich nichts an", sagte sie.
"Du willst es nicht sagen, weil du dich genierst. An Vetter Silvio kann es doch nicht liegen: Bestimmt weiß er alles. Ist es wegen Jean?
"Sie leben hier wie ein Wilder, armer Freund. Sie sollten zu der Kleinen kommen, wenn sie sich eingerichtet hat, und die schöne Jahreszeit bei ihr verbringen."
Dabei erlebe ich recht angenehme Momente, auch wenn sie nichts davon ahnen. Heute bin ich allein; der erste Schnee ist gefallen. Dieses Land, im Herzen Frankreichs, ist wild und reich zugleich. Jeder lebt für sich, auf seinem Gut, mißtraut dem Nachbarn, bringt seinen Weizen ein, zählt sein Geld und kümmert sich nicht um den Rest. Keine Schlösser, keine Besichtigungen. Hier herrscht eine Bourgeoisie, die dem Volk noch sehr nahe ist, gerade erst aus ihm hervorgegangen, mit feurigem Blut und allen Gütern der Welt zugetan. Meine Familie überzieht die Provinz mit einem ausgedehnten Netz an Érards, Chapelains, Benoîts, Montrifauts; es sind Großbauern, Notare, Beamte, Grundbesitzer. Ihre stattlichen Häuser liegen isoliert, weit vom Weiler entfernt, und werden von großen abweisenden, dreifach verriegelten Türen geschützt wie von Gefängnistüren, und davor von nüchternen Gärten, in denen fast keine Blumen wachsen: nur Gemüse und Spalierobstbäume, da diese mehr Früchte tragen. Die Wohnstuben sind mit Möbeln vollgestopft und immer geschlossen; man lebt in der Küche, um Brennholz zu sparen. Ich spreche natürlich nicht von François und Hélène Érard; ich kenne keine angenehmere, keine einladendere Wohnung, kein intimeres, fröhlicheres und wärmeres Heim. Trotzdem, für mich kommt nichts einem Abend wie diesem gleich: Es herrscht völlige Einsamkeit; meine Magd, die im Weiler schläft, hat gerade die Hühner eingesperrt und geht nach Hause. Ich höre das Klappern ihrer Holzschuhe auf dem Weg. Mir bleiben meine Pfeife, mein Hund zwischen den Beinen, das Rascheln der Mäuse auf dem Dachboden, das zischende Feuer, keine Zeitungen, keine Bücher, eine Flasche Juliénas, die sich am Kamin sanft erwärmt.
"Warum nennt man Sie Silvio, Vetter?" fragt Colette.
Ich antworte:
"Weil eine schöne Dame, die in mich verliebt war und die fand, daß ich einem Gondoliere ähnelte - denn damals, vor dreißig Jahren, hatte ich einen gezwirbelten Schnurrbart und schwarzes Haar -, meinen Vornamen Sylvester auf diese Art abgeändert hat."
"Aber Sie ähneln doch eher einem Faun", sagte Colette, "mit Ihrer großen Stirn, Ihrer Himmelfahrtsnase, Ihren spitzen Ohren und Ihren lachenden Augen. Sylvester, der Waldmensch. Das paßt sehr gut zu Ihnen."
Von Hélènes Kindern ist mir Colette die liebste. Sie ist nicht schön, hat aber etwas, was ich in meiner Jugend bei Frauen überaus schätzte: Feuer. Ihre Augen lachen, ebenso ihr großer Mund; ihr schwarzes Haar ist duftig und schlüpft in kleinen Locken unter ihrem Schal hervor, mit dem sie ihren Kopf bedeckt hat, da sie behauptet, Zugluft auf ihrem Nacken zu spüren. Man sagt, sie ähnele Hélène, als diese jung war. Aber ich erinnere mich nicht. Seit der Geburt ihres dritten Sohnes, des kleinen Loulou, der jetzt neun Jahre alt ist, hat Hélène stark zugenommen, und die achtundvierzigjährige Frau mit der weichen, welken Haut überdeckt in meiner Erinnerung die zwanzigjährige Hélène, die ich gekannt habe. Jetzt strahlt sie eine glückliche Gelassenheit aus, die beruhigt. Dieser Abend bei mir war ein offizieller Vorstellungsbesuch: Man machte mich mit Colettes Verlobtem bekannt. Es ist Jean Dorin, aus der Familie Dorin von Moulin-Neuf, Mühlenbesitzer vom Vater auf den Sohn. Ein schöner Fluß, grün und schaumbedeckt, fließt zu Füßen dieser Mühle. Als Dorins Vater noch lebte, ging ich dorthin, um Forellen zu angeln.
"Du wirst uns guten Fisch vorsetzen, Colette", sagte ich.
François lehnt meinen Punsch ab: er trinkt nur Wasser. Er hat einen dünnen grauen Spitzbart, den er sanft mit der Hand streichelt. Ich sagte:
"Sie werden die Gesellschaft nicht vermissen, wenn Sie sie verlassen haben, oder vielmehr wenn Sie von ihr verlassen worden sind, wie es bei mir der Fall war..."
Denn manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich vom Leben zurückgeworfen worden wie von einer zu hohen See. Ich bin an einem traurigen Ufer gestrandet, auf einem zwar noch soliden Boot, dessen Farben das Wasser jedoch ausgebleicht und das Salz zerfressen hat.
"... Sie werden nichts vermissen, da Sie ja weder den Wein noch die Jagd, noch die Frauen lieben."
"Ich werde meine Frau vermissen", sagte er lächelnd.
Da setzte sich Colette neben ihre Mutter und fragte:
"Mama, erzähle mir von deiner Verlobung mit Papa. Nie hast du von deiner Hochzeit gesprochen. Warum? Ich weiß nur, daß es eine romantische Geschichte war, daß ihr euch seit langem geliebt habt . Davon hast du mir nie erzählt. Warum?"
"Weil du mich nie darum gebeten hast."
"Aber jetzt bitte ich dich darum."
Hélène wehrte lachend ab:
"Das geht dich nichts an", sagte sie.
"Du willst es nicht sagen, weil du dich genierst. An Vetter Silvio kann es doch nicht liegen: Bestimmt weiß er alles. Ist es wegen Jean?
Wir tranken einen leichten Punsch, wie er in meiner Jugend in Mode war. Wir saßen vor dem Feuer, meine Cousins Érard, die Kinder und ich. Es war ein Herbstabend, hochrot über den vom Regen durchweichten Sturzäckern; der flammende Sonnenuntergang verhieß für den nächsten Tag starken Wind; die Raben krächzten. In diesem großen eiskalten Haus drang überall Luft herein mitsamt dem herben, fruchtigen Geruch, den sie in dieser Jahreszeit hat. Meine Cousine Hélène und ihre Tochter, Colette, bibberten unter den Kaschmirschals meiner Mutter, die ich ihnen geliehen hatte. Wie immer, wenn sie mich besuchen, fragten sie, wie ich es bloß anstellte, in diesem Rattenloch zu leben, und Colette, die kurz vor ihrer Hochzeit stand, rühmte mir die Reize von Moulin-Neuf, wo sie demnächst wohnen wird und "wo ich Sie oft zu sehen hoffe, Vetter Silvio", sagte sie. Mitleidig sah sie mich an. Ich bin alt, arm, Junggeselle; ich vergrabe mich in einer Bruchbude tief im Wald. Alle wissen, daß ich viel gereist bin und mein Erbe verpraßt habe; als ich, der verlorene Sohn, in meine Heimat zurückgekehrt bin, war sogar das Mastkalb an Altersschwäche gestorben, nachdem es lange vergeblich auf mich gewartet hatte. Meine Cousins Érard, die in Gedanken ihr Los mit dem meinen verglichen, verziehen mir vermutlich das viele Geld, das ich mir von ihnen geliehen hatte, ohne es zurückzugeben, und wiederholten mit Colette:
"Sie leben hier wie ein Wilder, armer Freund. Sie sollten zu der Kleinen kommen, wenn sie sich eingerichtet hat, und die schöne Jahreszeit bei ihr verbringen."
Dabei erlebe ich recht angenehme Momente, auch wenn sie nichts davon ahnen. Heute bin ich allein; der erste Schnee ist gefallen. Dieses Land, im Herzen Frankreichs, ist wild und reich zugleich. Jeder lebt für sich, auf seinem Gut, mißtraut dem Nachbarn, bringt seinen Weizen ein, zählt sein Geld und kümmert sich nicht um den Rest. Keine Schlösser, keine Besichtigungen. Hier herrscht eine Bourgeoisie, die dem Volk noch sehr nahe ist, gerade erst aus ihm hervorgegangen, mit feurigem Blut und allen Gütern der Welt zugetan. Meine Familie überzieht die Provinz mit einem ausgedehnten Netz an Érards, Chapelains, Benoîts, Montrifauts; es sind Großbauern, Notare, Beamte, Grundbesitzer. Ihre stattlichen Häuser liegen isoliert, weit vom Weiler entfernt, und werden von großen abweisenden, dreifach verriegelten Türen geschützt wie von Gefängnistüren, und davor von nüchternen Gärten, in denen fast keine Blumen wachsen: nur Gemüse und Spalierobstbäume, da diese mehr Früchte tragen. Die Wohnstuben sind mit Möbeln vollgestopft und immer geschlossen; man lebt in der Küche, um Brennholz zu sparen. Ich spreche natürlich nicht von François und Hélène Érard; ich kenne keine angenehmere, keine einladendere Wohnung, kein intimeres, fröhlicheres und wärmeres Heim. Trotzdem, für mich kommt nichts einem Abend wie diesem gleich: Es herrscht völlige Einsamkeit; meine Magd, die im Weiler schläft, hat gerade die Hühner eingesperrt und geht nach Hause. Ich höre das Klappern ihrer Holzschuhe auf dem Weg. Mir bleiben meine Pfeife, mein Hund zwischen den Beinen, das Rascheln der Mäuse auf dem Dachboden, das zischende Feuer, keine Zeitungen, keine Bücher, eine Flasche Juliénas, die sich am Kamin sanft erwärmt.
"Warum nennt man Sie Silvio, Vetter?" fragt Colette.
Ich antworte:
"Weil eine schöne Dame, die in mich verliebt war und die fand, daß ich einem Gondoliere ähnelte - denn damals, vor dreißig Jahren, hatte ich einen gezwirbelten Schnurrbart und schwarzes Haar -, meinen Vornamen Sylvester auf diese Art abgeändert hat."
"Aber Sie ähneln doch eher einem Faun", sagte Colette, "mit Ihrer großen Stirn, Ihrer Himmelfahrtsnase, Ihren spitzen Ohren und Ihren lachenden Augen. Sylvester, der Waldmensch. Das paßt sehr gut zu Ihnen."
Von Hélènes Kindern ist mir Colette die liebste. Sie ist nicht schön, hat aber etwas, was ich in meiner Jugend bei Frauen überaus schätzte: Feuer. Ihre Augen lachen, ebenso ihr großer Mund; ihr schwarzes Haar ist duftig und schlüpft in kleinen Locken unter ihrem Schal hervor, mit dem sie ihren Kopf bedeckt hat, da sie behauptet, Zugluft auf ihrem Nacken zu spüren. Man sagt, sie ähnele Hélène, als diese jung war. Aber ich erinnere mich nicht. Seit der Geburt ihres dritten Sohnes, des kleinen Loulou, der jetzt neun Jahre alt ist, hat Hélène stark zugenommen, und die achtundvierzigjährige Frau mit der weichen, welken Haut überdeckt in meiner Erinnerung die zwanzigjährige Hélène, die ich gekannt habe. Jetzt strahlt sie eine glückliche Gelassenheit aus, die beruhigt. Dieser Abend bei mir war ein offizieller Vorstellungsbesuch: Man machte mich mit Colettes Verlobtem bekannt. Es ist Jean Dorin, aus der Familie Dorin von Moulin-Neuf, Mühlenbesitzer vom Vater auf den Sohn. Ein schöner Fluß, grün und schaumbedeckt, fließt zu Füßen dieser Mühle. Als Dorins Vater noch lebte, ging ich dorthin, um Forellen zu angeln.
"Du wirst uns guten Fisch vorsetzen, Colette", sagte ich.
François lehnt meinen Punsch ab: er trinkt nur Wasser. Er hat einen dünnen grauen Spitzbart, den er sanft mit der Hand streichelt. Ich sagte:
"Sie werden die Gesellschaft nicht vermissen, wenn Sie sie verlassen haben, oder vielmehr wenn Sie von ihr verlassen worden sind, wie es bei mir der Fall war..."
Denn manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich vom Leben zurückgeworfen worden wie von einer zu hohen See. Ich bin an einem traurigen Ufer gestrandet, auf einem zwar noch soliden Boot, dessen Farben das Wasser jedoch ausgebleicht und das Salz zerfressen hat.
"... Sie werden nichts vermissen, da Sie ja weder den Wein noch die Jagd, noch die Frauen lieben."
"Ich werde meine Frau vermissen", sagte er lächelnd.
Da setzte sich Colette neben ihre Mutter und fragte:
"Mama, erzähle mir von deiner Verlobung mit Papa. Nie hast du von deiner Hochzeit gesprochen. Warum? Ich weiß nur, daß es eine romantische Geschichte war, daß ihr euch seit langem geliebt habt . Davon hast du mir nie erzählt. Warum?"
"Weil du mich nie darum gebeten hast."
"Aber jetzt bitte ich dich darum."
Hélène wehrte lachend ab:
"Das geht dich nichts an", sagte sie.
"Du willst es nicht sagen, weil du dich genierst. An Vetter Silvio kann es doch nicht liegen: Bestimmt weiß er alles. Ist es wegen Jean?
"Sie leben hier wie ein Wilder, armer Freund. Sie sollten zu der Kleinen kommen, wenn sie sich eingerichtet hat, und die schöne Jahreszeit bei ihr verbringen."
Dabei erlebe ich recht angenehme Momente, auch wenn sie nichts davon ahnen. Heute bin ich allein; der erste Schnee ist gefallen. Dieses Land, im Herzen Frankreichs, ist wild und reich zugleich. Jeder lebt für sich, auf seinem Gut, mißtraut dem Nachbarn, bringt seinen Weizen ein, zählt sein Geld und kümmert sich nicht um den Rest. Keine Schlösser, keine Besichtigungen. Hier herrscht eine Bourgeoisie, die dem Volk noch sehr nahe ist, gerade erst aus ihm hervorgegangen, mit feurigem Blut und allen Gütern der Welt zugetan. Meine Familie überzieht die Provinz mit einem ausgedehnten Netz an Érards, Chapelains, Benoîts, Montrifauts; es sind Großbauern, Notare, Beamte, Grundbesitzer. Ihre stattlichen Häuser liegen isoliert, weit vom Weiler entfernt, und werden von großen abweisenden, dreifach verriegelten Türen geschützt wie von Gefängnistüren, und davor von nüchternen Gärten, in denen fast keine Blumen wachsen: nur Gemüse und Spalierobstbäume, da diese mehr Früchte tragen. Die Wohnstuben sind mit Möbeln vollgestopft und immer geschlossen; man lebt in der Küche, um Brennholz zu sparen. Ich spreche natürlich nicht von François und Hélène Érard; ich kenne keine angenehmere, keine einladendere Wohnung, kein intimeres, fröhlicheres und wärmeres Heim. Trotzdem, für mich kommt nichts einem Abend wie diesem gleich: Es herrscht völlige Einsamkeit; meine Magd, die im Weiler schläft, hat gerade die Hühner eingesperrt und geht nach Hause. Ich höre das Klappern ihrer Holzschuhe auf dem Weg. Mir bleiben meine Pfeife, mein Hund zwischen den Beinen, das Rascheln der Mäuse auf dem Dachboden, das zischende Feuer, keine Zeitungen, keine Bücher, eine Flasche Juliénas, die sich am Kamin sanft erwärmt.
"Warum nennt man Sie Silvio, Vetter?" fragt Colette.
Ich antworte:
"Weil eine schöne Dame, die in mich verliebt war und die fand, daß ich einem Gondoliere ähnelte - denn damals, vor dreißig Jahren, hatte ich einen gezwirbelten Schnurrbart und schwarzes Haar -, meinen Vornamen Sylvester auf diese Art abgeändert hat."
"Aber Sie ähneln doch eher einem Faun", sagte Colette, "mit Ihrer großen Stirn, Ihrer Himmelfahrtsnase, Ihren spitzen Ohren und Ihren lachenden Augen. Sylvester, der Waldmensch. Das paßt sehr gut zu Ihnen."
Von Hélènes Kindern ist mir Colette die liebste. Sie ist nicht schön, hat aber etwas, was ich in meiner Jugend bei Frauen überaus schätzte: Feuer. Ihre Augen lachen, ebenso ihr großer Mund; ihr schwarzes Haar ist duftig und schlüpft in kleinen Locken unter ihrem Schal hervor, mit dem sie ihren Kopf bedeckt hat, da sie behauptet, Zugluft auf ihrem Nacken zu spüren. Man sagt, sie ähnele Hélène, als diese jung war. Aber ich erinnere mich nicht. Seit der Geburt ihres dritten Sohnes, des kleinen Loulou, der jetzt neun Jahre alt ist, hat Hélène stark zugenommen, und die achtundvierzigjährige Frau mit der weichen, welken Haut überdeckt in meiner Erinnerung die zwanzigjährige Hélène, die ich gekannt habe. Jetzt strahlt sie eine glückliche Gelassenheit aus, die beruhigt. Dieser Abend bei mir war ein offizieller Vorstellungsbesuch: Man machte mich mit Colettes Verlobtem bekannt. Es ist Jean Dorin, aus der Familie Dorin von Moulin-Neuf, Mühlenbesitzer vom Vater auf den Sohn. Ein schöner Fluß, grün und schaumbedeckt, fließt zu Füßen dieser Mühle. Als Dorins Vater noch lebte, ging ich dorthin, um Forellen zu angeln.
"Du wirst uns guten Fisch vorsetzen, Colette", sagte ich.
François lehnt meinen Punsch ab: er trinkt nur Wasser. Er hat einen dünnen grauen Spitzbart, den er sanft mit der Hand streichelt. Ich sagte:
"Sie werden die Gesellschaft nicht vermissen, wenn Sie sie verlassen haben, oder vielmehr wenn Sie von ihr verlassen worden sind, wie es bei mir der Fall war..."
Denn manchmal habe ich das Gefühl, als wäre ich vom Leben zurückgeworfen worden wie von einer zu hohen See. Ich bin an einem traurigen Ufer gestrandet, auf einem zwar noch soliden Boot, dessen Farben das Wasser jedoch ausgebleicht und das Salz zerfressen hat.
"... Sie werden nichts vermissen, da Sie ja weder den Wein noch die Jagd, noch die Frauen lieben."
"Ich werde meine Frau vermissen", sagte er lächelnd.
Da setzte sich Colette neben ihre Mutter und fragte:
"Mama, erzähle mir von deiner Verlobung mit Papa. Nie hast du von deiner Hochzeit gesprochen. Warum? Ich weiß nur, daß es eine romantische Geschichte war, daß ihr euch seit langem geliebt habt . Davon hast du mir nie erzählt. Warum?"
"Weil du mich nie darum gebeten hast."
"Aber jetzt bitte ich dich darum."
Hélène wehrte lachend ab:
"Das geht dich nichts an", sagte sie.
"Du willst es nicht sagen, weil du dich genierst. An Vetter Silvio kann es doch nicht liegen: Bestimmt weiß er alles. Ist es wegen Jean?
Details
Erscheinungsjahr: | 2009 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Buch |
Originaltitel: | Chaleur du sang |
Inhalt: | 128 S. |
ISBN-13: | 9783813503227 |
ISBN-10: | 3813503224 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Némirovsky, Irène |
Übersetzung: | Eva Moldenhauer |
knaus, albrecht verlag: | Knaus, Albrecht Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 223 x 145 x 17 mm |
Von/Mit: | Irène Némirovsky |
Erscheinungsdatum: | 10.08.2009 |
Gewicht: | 0,29 kg |
Details
Erscheinungsjahr: | 2009 |
---|---|
Genre: | Romane & Erzählungen |
Rubrik: | Belletristik |
Medium: | Buch |
Originaltitel: | Chaleur du sang |
Inhalt: | 128 S. |
ISBN-13: | 9783813503227 |
ISBN-10: | 3813503224 |
Sprache: | Deutsch |
Einband: | Gebunden |
Autor: | Némirovsky, Irène |
Übersetzung: | Eva Moldenhauer |
knaus, albrecht verlag: | Knaus, Albrecht Verlag |
penguin random house verlagsgruppe gmbh: | Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH |
Maße: | 223 x 145 x 17 mm |
Von/Mit: | Irène Némirovsky |
Erscheinungsdatum: | 10.08.2009 |
Gewicht: | 0,29 kg |
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