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Wir waren noch einmal davongekommen
Erinnerungen
Buch von Wolf Jobst Siedler
Sprache: Deutsch

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Beschreibung
Sieht man aus dem Abstand von f?nfzig Jahren auf die Nachkriegszeit, so blickt man in eine fremde Welt. Fern ist sie, so historisch wie die Ausrufung der Republik 1918 der Proklamation des Kaiserreiches 1871 gewesen ist, beide Male f?nfzig Jahre. Es ist kaum zu fassen, dass auch diesmal ein halbes Jahrhundert vergangen ist seit den letzten Tagen im Bunker unter der Reichskanzlei, als sich die Davongekommenen in der Nachkriegszeit einzurichten suchten.
Mit einem Mal wird mir bewusst, dass es geschichtliche Perspektiven sind, in die das eigene Leben ger?ckt ist.

R?ckkehr, aber keine Heimkehr
Nun war ich also wieder zu Hause. Als ich im Herbst 1947 den englischen Milit?ug, der mich aus der Kriegsgefangenschaft zur?ckgebracht hatte, am G?terbahnhof Lichterfelde-West verliess, schien auf den ersten Blick alles wie in Kindertagen. Der Vorplatz zum Bahnhof in seiner vertrauten kaiserzeitlichen Architektur sah wie immer aus, vielleicht ein wenig heruntergekommen, denn seit den Friedensjahren waren die Fassaden und die Fensterkreuze nicht gestrichen worden, und auf den Balkons gab es keine Geranien oder Petunien mehr. Aber die Behaglichkeit der H?er war die alte, und die Besatzungstruppen nahm ich zumindest nicht wahr, obwohl doch wahrscheinlich Jeeps die leeren Strassen entlangfuhren, die einst zur Hauptkadettenanstalt in Gross-Lichterfelde gef?hrt hatten, wo mein Grossvater als junger Offizier die Kadetten Grundz?ge der Taktik gelehrt hatte. Im Fr?hjahr 1933 war sie von einer SS-Einheit okkupiert worden, die sich sp?r ?Leibstandarte Adolf Hitler? nannte.
Der Bombenkrieg war an Lichterfelde wie an Dahlem weitgehend vor?bergegangen, und w?end ich mich zu Fuss aufmachte, die vertrauten Strassen ?ber ?Unter den Eichen? hinweg ? einst das Berliner Mittelst?ck der Reichsstrasse Nr. 1 von Aachen nach Eydtkuhnen ? die Habelschwerdter Allee ?ber die Thielallee bis zur K?nigin-Luise-Strasse entlangzugehen, ziemlich schwer mit aus der Gefangenschaft mitgebrachten Lebensmitteln f?r meine Eltern beladen, fielen mir nur drei oder vier niedergebrannte H?er in die Augen. Auch der heimatliche Falkenried hatte sich kaum ver?ert. Die H?er waren wie stets im Herbst mit wildem Wein bewachsen, der sich jetzt im September rot f?te. ?er die D?er gr?ssten die Wipfel der alten Kastanien, Nussb?e und Blutbuchen, die seit je in den G?en gestanden hatten. Erst in den kommenden Jahrzehnten sollten sie von den neuen Besitzern der H?er fast ausnahmslos gef?t werden, weil Sonnenhunger sie beherrschte. Sie liessen Zwergkoniferen und ?nichtlaubabwerfendes? Geh?lz anstelle der alten Baumriesen pflanzen. Das Ende der alten Zeit gibt sich auch im Botanischen zu erkennen. Die Gesellschaft, da man in umschatteten Lauben den Tee einnahm, gab es nicht mehr. Nun wollte man auf sonnenbeschienener Terrasse sitzen. Das Sonnen?l ist das eigentliche Erkennungsmerkmal der neuen Zeit.
Ich stand vor dem Elternhaus, als wenn ich von einer l?eren Reise zur?ckgekommen w?, fast war ich versucht, die Klingel zu bet?gen, auf der noch immer der Name meines Vaters stand: Dr. jur. Wolf Jobst Siedler. Aber fast alle H?er, auch unser eigenes, waren inzwischen erst von den Russen, dann von den Amerikanern beschlagnahmt worden, worauf mich schon die ?Amikreuzer? aufmerksam machten, deren Ausmasse in einem Missverh?nis zu der Gr?sse der eher bescheidenen Reihenh?er aus der Vorweltkriegszeit standen.
Alles schien wie in alter Zeit zu sein. Ich war daheim. Aber war ich wirklich zu Hause? In den n?sten Tagen und Wochen sollte ich sehen, dass vieles anders war, ganz abgesehen davon, dass die Familie nicht mehr im alten Haus wohnte. Die meisten Nachbarn aus Vorkriegstagen waren nicht mehr da, die einen waren in den dreissiger Jahren emigriert, andere, wie mein Klassenkamerad Dieter Huth aus einer Seitenstrasse des Falkenrieds mit achtzehn Jahren noch in den letzten Wochen des Krieges gefallen und wieder andere vor dem Einzug der Russen in den Westen gegangen. Die Welt meiner Eltern und meiner Jugend gab es nicht mehr.
Aber habe ich diese Welt jenseits der Familie, der Verwandten und Freunde wirklich wahrgenommen? Als Kind lebt man ja stets im engsten Kreis. Als Hitler 1933 die Macht ?bernahm, war ich ganze sieben Jahre, in den dreissiger Jahren war ich unmerklich aus dem Kindesalter in die Schulzeit ?bergewechselt, und seit meinem zw?lften Lebensjahr hatte ich in einem Internat in Th?ringen gelebt. So war zwar der Falkenried mein Zuhause, aber im Grunde kannte ich ihn und unsere Nachbarn wenig. Das galt aber nicht nur f?r mich; auch meine Eltern lebten in h?flicher Distanz zu den Bewohnern der angrenzenden H?er. Unsere unmittelbaren Nachbarn, die Vit?zur Linken und die Denickes zur Rechten, kannten wir nat?rlich, wahrscheinlich hatten sie, wie das der Brauch war, einen Antrittsbesuch gemacht, nachdem sie ihre H?er erworben hatten. Aber sonst war es eine Zeit, in der man auf Abstand hielt. Nur in Ausnahmef?en gr?sste man sich ?ber den Zaun hinweg, ich erinnere mich nicht, dass irgendein Verkehr von Familie zu Familie stattgefunden h?e. Das w? als Zudringlichkeit empfunden worden, wie denn auch mein Vater auf der Strasse lediglich den Hut zog, wenn er Nachbarn begegnete. ?rigens begr?sste mein Vater sp?r auch unsere Haush?erin Hildegard Klopsch, indem er den Hut zog, wenn er ihr auf dem Weg zur U-Bahn oder zum Bus begegnete. Er machte keinen Unterschied zwischen Damen der Gesellschaft und Hausangestellten. Seine mit ihm altgewordene Chefsekret?n Lisa Pollm?er erz?te mir 1963 bei der Trauerfeier f?r ihn, dass er, selbst als er Dutzende von Angestellten hatte, jedesmal aufgestanden war, wenn eine Sekret?n, und sei es die j?ngste, morgens zum ersten Mal den Raum betrat. Auch das ein Brauch der alten Welt.
Meine Schwester Gitty lebte 1947 noch immer in Hannoversch-M?nden, wohin ihre Dienststelle bei der Biologischen Reichsanstalt f?r Land- und Forstwirtschaft im September 1943 des Bombenkrieges wegen von der Dahlemer K?nigin-Luise-Strasse ?verlagert? worden war. Meine Grossmutter Dorothea Wegener aber, die in den Wochen der sowjetischen Eroberung bei ihren Kindern in Dahlem Zuflucht gesucht hatte, war in ihre halbzerst?rte Wohnung in der Prausestrasse in Lichterfelde-West zur?ckgekehrt. Den Reichsverband Papier und Pappe, dessen Syndikus und Justitiar mein Vater gewesen war, gab es inzwischen nicht mehr. Mein Vater war gerade dabei, einen Berliner Ersatzverband ins Leben zu rufen, der die Interessen der Firmen in den drei westlichen Sektoren vertreten sollte. Fr?her hatte er sein B?ro in der repr?ntativen Beletage eines ehemaligen Mietshauses am Nollendorfplatz gehabt. Dort hatte uns Kinder das Badezimmer der einst hochherrschaftlichen Wohnung besonders beeindruckt, nicht nur seiner saalartigen Gr?sse wegen, sondern weil anstelle der Badewanne eine Vertiefung in den Boden eingelassen war, zu der man ?ber mehrere Stufen hinuntersteigen musste und die mit Mosaiken ausgekleidet war. Nach der Ausbombung hatte er in mehreren Notquartieren in der fast v?llig zerst?rten Lietzenburger Strasse ein Unterkommen gefunden. Am Ende hatte er im Haus des Feldm?hle-Papierkonzerns am Kurf?rstendamm zwei Zimmer bezogen. Es ist das einzige Jugendstilhaus an der Prachtstrasse der Kaiserzeit, zwischen den Seitenstrassen Leibniz- und Wielandstrasse, das wie durch ein Wunder Bombenkrieg und Strassenk?fe ?berstanden hat und heute eine Erinnerung an den einstigen pomp?sen Glanz des Boulevards ist.
Der Feldm?hle-Konzern hatte zu dem Verband meines Vaters geh?rt, und der hatte ihm wahrscheinlich zu dem B?ro verholfen. Am Nollendorfplatz hatte er ein Vierzehn-Zimmer-B?ro gehabt, jetzt hatte er nur eine einzige Sekret?n, mit der er gerade einmal in zwei kleinen R?en ein Behelfsb?ro aufzubauen suchte. Aber seine Sekret?n Lisa Pollm?er war noch immer bei ihm, und sie k?mmerte sich r?hrend um seine hinf?ig gewordene Gesundheit. Die ?brigen Angestellten gab es nicht mehr, auch nicht Hans Drache, den Kavallerieoffizier des Ersten Weltkrieges. Auch Werner B?ngel, ein Oberstudiendirektor, der gleich nach der Macht?bernahme aufgrund seiner Zugeh?rigkeit zum republikanischen Schutzverband Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zur Eisernen Front entlassen worden war, hatte im B?ro meines Vaters Zuflucht gefunden.
Ein Oberstudiendirektor war in der Zentrale der deutschen Pappen- und Papierindustrie wenig zunutze, und ich weiss nicht, welche Aufgabe Dr. B?ngel offiziell ?bernommen hatte. Vor allem arbeitete er auf jenen Gebieten, denen seit jeher seine besondere Leidenschaft geh?rt hatte. Zuletzt war das die Bedeutung des Briefes zwischen Altertum und Neuzeit und wie sich an Hand der Korrespondenz eine Epoche fassen lasse. Dar?ber schrieb B?ngel sein Buch ?Der Brief. Ein kulturgeschichtliches Dokument?, dessen Erscheinen mein Vater m?glich machte.
Der Band erschien 1938/39 in st?ig neuen Ausgaben und Auflagen, zuerst als Privatdruck der Wirtschaftsgruppe Druck und Papierverarbeitung bei der Ganymedpresse, Berlin. In einem Antiquariatskatalog wurde der Band k?rzlich mit folgender Charakterisierung angeboten: ?Eleganter Druck der Ganymedpresse auf B?tten, mit Brieffaksimiles, vergoldeter R?ckentitelei und Lichtdrucktafeln?. Nicht ohne R?hrung nehme ich eine andere Ausgabe des Bandes in die Hand und sehe, dass sie im Gebr. Mann Verlag erschienen ist.
Drei Jahrzehnte sp?r sollte ich im Rahmen der Ullstein- und Propyl?-Gruppe auch f?r den Gebr. Mann Verlag verantwortlich sein. Meinen Vater und Dr. B?ngel h?e diese sp? Wiederbegegnung ihres Bandes mit dem einstigen Gymnasiasten wohl am?siert.
Ich erinnere mich noch an ein Gespr? meiner Eltern im Wintergarten unseres Hauses. Meine Mutter war besorgt, dass mein Vater zu viele Missliebige in seinem B?ro angestellt hatte, obwohl sie mit der Papier- und Pappenindustrie nun weiss Gott nichts zu tun hatten. Machte er sich auf diese Weise selber verd?tig? Aber der ?erwachungsapparat der Gestapo war wesentlich ineffektiver ? oder nachl?iger ? als...
Sieht man aus dem Abstand von f?nfzig Jahren auf die Nachkriegszeit, so blickt man in eine fremde Welt. Fern ist sie, so historisch wie die Ausrufung der Republik 1918 der Proklamation des Kaiserreiches 1871 gewesen ist, beide Male f?nfzig Jahre. Es ist kaum zu fassen, dass auch diesmal ein halbes Jahrhundert vergangen ist seit den letzten Tagen im Bunker unter der Reichskanzlei, als sich die Davongekommenen in der Nachkriegszeit einzurichten suchten.
Mit einem Mal wird mir bewusst, dass es geschichtliche Perspektiven sind, in die das eigene Leben ger?ckt ist.

R?ckkehr, aber keine Heimkehr
Nun war ich also wieder zu Hause. Als ich im Herbst 1947 den englischen Milit?ug, der mich aus der Kriegsgefangenschaft zur?ckgebracht hatte, am G?terbahnhof Lichterfelde-West verliess, schien auf den ersten Blick alles wie in Kindertagen. Der Vorplatz zum Bahnhof in seiner vertrauten kaiserzeitlichen Architektur sah wie immer aus, vielleicht ein wenig heruntergekommen, denn seit den Friedensjahren waren die Fassaden und die Fensterkreuze nicht gestrichen worden, und auf den Balkons gab es keine Geranien oder Petunien mehr. Aber die Behaglichkeit der H?er war die alte, und die Besatzungstruppen nahm ich zumindest nicht wahr, obwohl doch wahrscheinlich Jeeps die leeren Strassen entlangfuhren, die einst zur Hauptkadettenanstalt in Gross-Lichterfelde gef?hrt hatten, wo mein Grossvater als junger Offizier die Kadetten Grundz?ge der Taktik gelehrt hatte. Im Fr?hjahr 1933 war sie von einer SS-Einheit okkupiert worden, die sich sp?r ?Leibstandarte Adolf Hitler? nannte.
Der Bombenkrieg war an Lichterfelde wie an Dahlem weitgehend vor?bergegangen, und w?end ich mich zu Fuss aufmachte, die vertrauten Strassen ?ber ?Unter den Eichen? hinweg ? einst das Berliner Mittelst?ck der Reichsstrasse Nr. 1 von Aachen nach Eydtkuhnen ? die Habelschwerdter Allee ?ber die Thielallee bis zur K?nigin-Luise-Strasse entlangzugehen, ziemlich schwer mit aus der Gefangenschaft mitgebrachten Lebensmitteln f?r meine Eltern beladen, fielen mir nur drei oder vier niedergebrannte H?er in die Augen. Auch der heimatliche Falkenried hatte sich kaum ver?ert. Die H?er waren wie stets im Herbst mit wildem Wein bewachsen, der sich jetzt im September rot f?te. ?er die D?er gr?ssten die Wipfel der alten Kastanien, Nussb?e und Blutbuchen, die seit je in den G?en gestanden hatten. Erst in den kommenden Jahrzehnten sollten sie von den neuen Besitzern der H?er fast ausnahmslos gef?t werden, weil Sonnenhunger sie beherrschte. Sie liessen Zwergkoniferen und ?nichtlaubabwerfendes? Geh?lz anstelle der alten Baumriesen pflanzen. Das Ende der alten Zeit gibt sich auch im Botanischen zu erkennen. Die Gesellschaft, da man in umschatteten Lauben den Tee einnahm, gab es nicht mehr. Nun wollte man auf sonnenbeschienener Terrasse sitzen. Das Sonnen?l ist das eigentliche Erkennungsmerkmal der neuen Zeit.
Ich stand vor dem Elternhaus, als wenn ich von einer l?eren Reise zur?ckgekommen w?, fast war ich versucht, die Klingel zu bet?gen, auf der noch immer der Name meines Vaters stand: Dr. jur. Wolf Jobst Siedler. Aber fast alle H?er, auch unser eigenes, waren inzwischen erst von den Russen, dann von den Amerikanern beschlagnahmt worden, worauf mich schon die ?Amikreuzer? aufmerksam machten, deren Ausmasse in einem Missverh?nis zu der Gr?sse der eher bescheidenen Reihenh?er aus der Vorweltkriegszeit standen.
Alles schien wie in alter Zeit zu sein. Ich war daheim. Aber war ich wirklich zu Hause? In den n?sten Tagen und Wochen sollte ich sehen, dass vieles anders war, ganz abgesehen davon, dass die Familie nicht mehr im alten Haus wohnte. Die meisten Nachbarn aus Vorkriegstagen waren nicht mehr da, die einen waren in den dreissiger Jahren emigriert, andere, wie mein Klassenkamerad Dieter Huth aus einer Seitenstrasse des Falkenrieds mit achtzehn Jahren noch in den letzten Wochen des Krieges gefallen und wieder andere vor dem Einzug der Russen in den Westen gegangen. Die Welt meiner Eltern und meiner Jugend gab es nicht mehr.
Aber habe ich diese Welt jenseits der Familie, der Verwandten und Freunde wirklich wahrgenommen? Als Kind lebt man ja stets im engsten Kreis. Als Hitler 1933 die Macht ?bernahm, war ich ganze sieben Jahre, in den dreissiger Jahren war ich unmerklich aus dem Kindesalter in die Schulzeit ?bergewechselt, und seit meinem zw?lften Lebensjahr hatte ich in einem Internat in Th?ringen gelebt. So war zwar der Falkenried mein Zuhause, aber im Grunde kannte ich ihn und unsere Nachbarn wenig. Das galt aber nicht nur f?r mich; auch meine Eltern lebten in h?flicher Distanz zu den Bewohnern der angrenzenden H?er. Unsere unmittelbaren Nachbarn, die Vit?zur Linken und die Denickes zur Rechten, kannten wir nat?rlich, wahrscheinlich hatten sie, wie das der Brauch war, einen Antrittsbesuch gemacht, nachdem sie ihre H?er erworben hatten. Aber sonst war es eine Zeit, in der man auf Abstand hielt. Nur in Ausnahmef?en gr?sste man sich ?ber den Zaun hinweg, ich erinnere mich nicht, dass irgendein Verkehr von Familie zu Familie stattgefunden h?e. Das w? als Zudringlichkeit empfunden worden, wie denn auch mein Vater auf der Strasse lediglich den Hut zog, wenn er Nachbarn begegnete. ?rigens begr?sste mein Vater sp?r auch unsere Haush?erin Hildegard Klopsch, indem er den Hut zog, wenn er ihr auf dem Weg zur U-Bahn oder zum Bus begegnete. Er machte keinen Unterschied zwischen Damen der Gesellschaft und Hausangestellten. Seine mit ihm altgewordene Chefsekret?n Lisa Pollm?er erz?te mir 1963 bei der Trauerfeier f?r ihn, dass er, selbst als er Dutzende von Angestellten hatte, jedesmal aufgestanden war, wenn eine Sekret?n, und sei es die j?ngste, morgens zum ersten Mal den Raum betrat. Auch das ein Brauch der alten Welt.
Meine Schwester Gitty lebte 1947 noch immer in Hannoversch-M?nden, wohin ihre Dienststelle bei der Biologischen Reichsanstalt f?r Land- und Forstwirtschaft im September 1943 des Bombenkrieges wegen von der Dahlemer K?nigin-Luise-Strasse ?verlagert? worden war. Meine Grossmutter Dorothea Wegener aber, die in den Wochen der sowjetischen Eroberung bei ihren Kindern in Dahlem Zuflucht gesucht hatte, war in ihre halbzerst?rte Wohnung in der Prausestrasse in Lichterfelde-West zur?ckgekehrt. Den Reichsverband Papier und Pappe, dessen Syndikus und Justitiar mein Vater gewesen war, gab es inzwischen nicht mehr. Mein Vater war gerade dabei, einen Berliner Ersatzverband ins Leben zu rufen, der die Interessen der Firmen in den drei westlichen Sektoren vertreten sollte. Fr?her hatte er sein B?ro in der repr?ntativen Beletage eines ehemaligen Mietshauses am Nollendorfplatz gehabt. Dort hatte uns Kinder das Badezimmer der einst hochherrschaftlichen Wohnung besonders beeindruckt, nicht nur seiner saalartigen Gr?sse wegen, sondern weil anstelle der Badewanne eine Vertiefung in den Boden eingelassen war, zu der man ?ber mehrere Stufen hinuntersteigen musste und die mit Mosaiken ausgekleidet war. Nach der Ausbombung hatte er in mehreren Notquartieren in der fast v?llig zerst?rten Lietzenburger Strasse ein Unterkommen gefunden. Am Ende hatte er im Haus des Feldm?hle-Papierkonzerns am Kurf?rstendamm zwei Zimmer bezogen. Es ist das einzige Jugendstilhaus an der Prachtstrasse der Kaiserzeit, zwischen den Seitenstrassen Leibniz- und Wielandstrasse, das wie durch ein Wunder Bombenkrieg und Strassenk?fe ?berstanden hat und heute eine Erinnerung an den einstigen pomp?sen Glanz des Boulevards ist.
Der Feldm?hle-Konzern hatte zu dem Verband meines Vaters geh?rt, und der hatte ihm wahrscheinlich zu dem B?ro verholfen. Am Nollendorfplatz hatte er ein Vierzehn-Zimmer-B?ro gehabt, jetzt hatte er nur eine einzige Sekret?n, mit der er gerade einmal in zwei kleinen R?en ein Behelfsb?ro aufzubauen suchte. Aber seine Sekret?n Lisa Pollm?er war noch immer bei ihm, und sie k?mmerte sich r?hrend um seine hinf?ig gewordene Gesundheit. Die ?brigen Angestellten gab es nicht mehr, auch nicht Hans Drache, den Kavallerieoffizier des Ersten Weltkrieges. Auch Werner B?ngel, ein Oberstudiendirektor, der gleich nach der Macht?bernahme aufgrund seiner Zugeh?rigkeit zum republikanischen Schutzverband Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zur Eisernen Front entlassen worden war, hatte im B?ro meines Vaters Zuflucht gefunden.
Ein Oberstudiendirektor war in der Zentrale der deutschen Pappen- und Papierindustrie wenig zunutze, und ich weiss nicht, welche Aufgabe Dr. B?ngel offiziell ?bernommen hatte. Vor allem arbeitete er auf jenen Gebieten, denen seit jeher seine besondere Leidenschaft geh?rt hatte. Zuletzt war das die Bedeutung des Briefes zwischen Altertum und Neuzeit und wie sich an Hand der Korrespondenz eine Epoche fassen lasse. Dar?ber schrieb B?ngel sein Buch ?Der Brief. Ein kulturgeschichtliches Dokument?, dessen Erscheinen mein Vater m?glich machte.
Der Band erschien 1938/39 in st?ig neuen Ausgaben und Auflagen, zuerst als Privatdruck der Wirtschaftsgruppe Druck und Papierverarbeitung bei der Ganymedpresse, Berlin. In einem Antiquariatskatalog wurde der Band k?rzlich mit folgender Charakterisierung angeboten: ?Eleganter Druck der Ganymedpresse auf B?tten, mit Brieffaksimiles, vergoldeter R?ckentitelei und Lichtdrucktafeln?. Nicht ohne R?hrung nehme ich eine andere Ausgabe des Bandes in die Hand und sehe, dass sie im Gebr. Mann Verlag erschienen ist.
Drei Jahrzehnte sp?r sollte ich im Rahmen der Ullstein- und Propyl?-Gruppe auch f?r den Gebr. Mann Verlag verantwortlich sein. Meinen Vater und Dr. B?ngel h?e diese sp? Wiederbegegnung ihres Bandes mit dem einstigen Gymnasiasten wohl am?siert.
Ich erinnere mich noch an ein Gespr? meiner Eltern im Wintergarten unseres Hauses. Meine Mutter war besorgt, dass mein Vater zu viele Missliebige in seinem B?ro angestellt hatte, obwohl sie mit der Papier- und Pappenindustrie nun weiss Gott nichts zu tun hatten. Machte er sich auf diese Weise selber verd?tig? Aber der ?erwachungsapparat der Gestapo war wesentlich ineffektiver ? oder nachl?iger ? als...
Details
Erscheinungsjahr: 2004
Medium: Buch
Inhalt: 496 S.
125 s/w Illustr.
ca. 50 s/w-Abb.
ISBN-13: 9783886807901
ISBN-10: 3886807908
Sprache: Deutsch
Einband: Leinen
Autor: Siedler, Wolf Jobst
siedler, wolf jobst, verlag: Siedler, Wolf Jobst, Verlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 222 x 147 x 41 mm
Von/Mit: Wolf Jobst Siedler
Erscheinungsdatum: 21.09.2004
Gewicht: 0,73 kg
Artikel-ID: 102465810
Details
Erscheinungsjahr: 2004
Medium: Buch
Inhalt: 496 S.
125 s/w Illustr.
ca. 50 s/w-Abb.
ISBN-13: 9783886807901
ISBN-10: 3886807908
Sprache: Deutsch
Einband: Leinen
Autor: Siedler, Wolf Jobst
siedler, wolf jobst, verlag: Siedler, Wolf Jobst, Verlag
penguin random house verlagsgruppe gmbh: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Maße: 222 x 147 x 41 mm
Von/Mit: Wolf Jobst Siedler
Erscheinungsdatum: 21.09.2004
Gewicht: 0,73 kg
Artikel-ID: 102465810
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